Zitronenmorgen
Bernd Lisek
1998
Vielleicht bin ich der einzige Überlebende einer Katastrophe ungeheuren Ausmaßes. Wahrscheinlicher jedoch gehöre ich zu einer ganzen Reihe zufälliger Zeugen jener grandiosen Vorgänge, die heute morgen begonnen haben und ein ganzes Land, wenn nicht einen Erdteil in Angst und Schrecken zu versetzen scheinen.
Angst und Schrecken? Bis jetzt sind alles nur vage Vermutungen. Sicher ist nur, daß Hunderttausende oder Millionen betroffen sind von einer Sache, die furchtbar sein muß, deren wahren Charakter ich aber noch nicht einmal in Ansätzen beschreiben kann. Ich bin Wissenschaftler, und so ist es meine Pflicht, die Geschehnisse getreu den Tatsachen aufzuzeichnen. Wenn das alles einmal vorbei sein wird, dann wird die Wissenschaft nach solchem Faktenmaterial verlangen, um die unglaublichen Vorgänge dieses Tages vernünftig zu erklären.
Vielleicht bin ich tatsächlich der einzige, der so nahe dem Zentrum des Geschehens ohne Schaden davongekommen ist. Ob ich jemals meine Beobachtungen anderen Menschen mitteilen kann, weiß ich nicht. Denn das, was sich heute hier abspielt, erscheint mir so bedrohlich, daß ich ernstlich um mein Leben fürchten muß. Die eigentümlichen Ereignisse sind noch in vollem Gange. So bleibt mir nur, möglichst exakt niederzuschreiben, was ich wahrnehme. Möglicherweise können meine Aufzeichnungen einmal von Nutzen sein.
Ich beginne mit einer Beschreibung meiner gegenwärtigen Situation, denn oft hängt das Bild einer Erscheinung vom Beobachtungsstandpunkt ab.
Mein Name ist Wilfried Brandt. Ich bin 46 Jahre alt, von Beruf Biologe und seit acht Monaten hier auf der Beobachtungsstation Higuito des Instituts für Artenvielfalt beschäftigt. Die Station liegt in Sichtweite des Vulkans Irazú, jedoch auf der anderen Seite des weiten Tals, das an dieser Stelle vollständig von der Großstadt Cartago eingenommen wird. Nicht weit von der Station gibt es eine Anhöhe, von der aus man bei gutem Wetter Teile der Stadt sehen kann. Doch meist sind wir in Wolken gehüllt. Hier oben gibt es noch Reste des ursprünglichen montanen Nebelwaldes. Dessen botanischen Bestand zu erfassen und Veränderungen zu registrieren, war bis heute unsere Aufgabe.
Die Station besteht aus einem Holzhaus mit Zinkblechdach, einem Latrinenhäuschen und einem Trinkwasserbrunnen. Das Haus umfaßt einen Wohn- und einen Arbeitsraum. Ständig arbeiten hier zwei Biologen. Mein Kollege Juan Navarro Quiros ist gestern mit dem Jeep in die Stadt gefahren, um unser defektes Funktelefon auszutauschen und frische Lebensmittel einzukaufen. Er wollte außerdem noch einiges im Institut erledigen, so daß mit seiner Rückkehr nicht vor morgen zu rechnen gewesen wäre. Wie die Dinge jetzt liegen, erwarte ich ihn nicht mehr.
Doch der Reihe nach! Als ich heute morgen gegen sechs Uhr dreißig aus der Hütte trat, fiel mir der ungewöhnlich klare, wolkenlose Himmel auf. Nicht einmal die übliche Trübung in der Ferne war zu erkennen. Gleichmäßiges, tiefes Blau und eine stechende Sonne, die sich gerade vom Kamm der Kordillere gelöst hatte. Ich messe diesen Umständen im Nachhinein Bedeutung bei, weil die nachfolgenden Ereignisse ganz offensichtlich mit atmosphärischen Erscheinungen zusammenhängen.
Punkt sieben Uhr fiel der staatliche Rundfunksender aus. Als er nach einigen Minuten nicht wieder zu senden begann, stellte ich mein Radio auf den im Frequenzenspektrum nächstliegenden Sender ein. Dieser hätte um sieben Uhr dreißig die nächsten Nachrichten bringen müssen. Doch die Nachrichten fielen aus. Es gab nur die übliche, leichte Musik. Daß die Nachrichtensendung fehlte, fiel mir erst eine Viertelstunde später auf, als auch dieser Sender den Betrieb einstellte. Ich hatte gerade mein Frühstück beendet und begonnen, meine vom Vortage lehmverkrusteten Stiefel zu reinigen.
Mit wachsendem Erstaunen und beginnender Neugier ging ich noch einmal zum Radio hinüber und kurbelte die gesamte Skala durch. Alle Sender des Landes waren verschwunden! Ich schaltete den Fernseher ein. Auch hier alle nationalen Kanäle tot. Der Sender aus Nicaragua, den wir aufgrund unserer Höhenlage manchmal hereinbekommen, war nur sehr schwach zu empfangen. Immerhin konnte ich erkennen, daß gerade eine der endlosen Telenovelas lief. Dort war also alles in Ordnung. Was war mit unseren inländischen Sendern los?
Nachdem ich den Fernseher aus-, das Radio wieder eingeschaltet und einen Sender aus Miami gewählt hatte, stellte ich folgende Überlegungen an. Die Radio- und Fernsehsender waren total ausgefallen. Nicht einmal ein Rauschen fand sich auf ihren Frequenzen. überhaupt kein Signal. Ich schaute zum Irazú hinüber. Von den Sendemasten, die sich dort in über dreitausend Metern Höhe befanden, wurden die meisten Programme abgestrahlt. Die Masten und die zwischen ihnen gespannten Antennen ragten unversehrt in den blauen Himmel. Der Vulkan war nicht ausgebrochen. Nicht die Spur einer Rauchwolke. Nun hielt ich es für das Wahrscheinlichste, daß die Stromversorgung des Landes in mehreren Stufen zusammengebrochen war. Ich schaute mit ein klein wenig Stolz auf die Schalttafel der von mir installierten Solarstromanlage. (Die Station liegt weit entfernt von jeder Elektroleitung.) Infolge der stechenden Sonne brachten die Solarmodule maximale Leistung.
Da fiel mir ein, daß im Katastrophenfall zumindest der staatliche Nachrichtensender mit einem Notstromaggregat weiterbetrieben wird. Aber der Sender schwieg. Es mußte etwas noch Außergewöhnlicheres vorgefallen sein. Jetzt hätte ich gern die Kollegen im Institut angerufen, um zu erfahren, was passiert war. Aber das Funktelefon hatte ja Juan mitgenommen. Ich war von jeder Informationsmöglichkeit abgeschnitten.
Zuerst belustigte mich der Gedanke, mit meinen Mutmaßungen (und mit meiner gut funktionierenden Station) so völlig allein zu sein. Es würde ja nicht lange dauern, einen Tag, höchstens zwei. Dann käme Juan wieder und würde alles erklären. Doch da war schon eine leichte Beunruhigung. Sie hing wohl auch mit dem ungewöhnlichen Wetter zusammen, das ich so in dieser Höhenlage noch nicht erlebt hatte. Nach wie vor nicht der kleinste Wolkendunst. Der Wind hatte sich gelegt. Es war vollkommen still. Nicht ein Vogel war zu hören. Die Sonne brannte auf Bäume, Farne und Bambus so erbarmungslos herab, daß die zartesten Pflanzen schon ihre Blätter heruntergeklappt hatten. Nichts regte sich.
Ich beschloß, an diesem Vormittag zur Wiesenkuppe emporzusteigen. Die Wiesenkuppe ist das Ende einer Fila, auf der nur harte Gräser und flache Kräuter wachsen, denn sie ist den heftigen Karibikwinden schutzlos ausgesetzt. Normalerweise. Nur heute war überhaupt kein Wind. Das kommt im Mittel an zwei Tagen des Jahres vor, sagt die Statistik.
Ich hing mir also meinen Rucksack über und stapfte los. Noch immer war kein Vogel zu hören. Die Blüten des Waldes dufteten, aber ich sah und hörte nicht eine der sonst hier in Schwärmen anzutreffenden Bienen. Was war nur heute los?
In diesem Momemt fühlte ich mich das erste Mal schmerzlich allein. Die Stelle auf der abgelegenen Station hatte ich angenommen, weil ich die Einsamkeit suchte. Damals hatte ich meine triftigen persönlichen Gründe. Hier oben war ich in all den Wochen recht glücklich. Allein mit meinen Gedanken und glücklich. Das war es ja, was ich wollte. Aber doch nicht so!
All das Schweigen um mich herum versetzte mich in einen Zustand größter Anspannung. Ich erreichte die Wiesenkuppe keuchend von der Anstrengung des Aufstiegs und aufgewühlt von meinen wirren Gedanken.
Die Stadt ist so weit entfernt, daß man hier oben von ihrem Leben weder etwas hört noch sieht. Mit zwei Ausnahmen: die Gasfackel und Rauchfahne der Ölraffinerie und die winzigen Pünktchen, die man bei gutem Wetter durch das Fernglas erkennen konnte, wie sie entlang des schmalen Bandes der Autobahn krochen.
Ich blickte also durch mein Glas und erschrak. Die Fackel der Raffinerie war erloschen. Nicht eine Spur von Rauch. Die Anlagen mußten seit Stunden stilliegen. Auf der Autobahn nicht ein einziges Fahrzeug! Systematisch suchte ich das gesamte Stadtgebiet ab. Meine Augen schmerzten vor Anstrengung. Nirgendwo war ein Zeichen von Leben zu finden. Schlimmer noch: Der Platz vor der Basilika, auf dem gewöhnlich eine ganze Reihe von Bussen parkt, war wie leergefegt. Keine Fahrzeuge, nirgendwo Rauch, nichts. Die Dächer glänzten verlassen in der gleißenden Sonne.
Wie kann sich eine Stadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern an einem Sonnentag wie heute so vollständig und ohne Ausnahme zur Ruhe legen? Und warum wurden vorher alle Autos von den Parkplätzen entfernt? Da nichts auf gewaltsame Zerstörungen hinwies, schien mir nur eine Erklärung möglich: Die Bewohner des Tals waren heute morgen restlos und in großer Hast geflohen. Vor irgendetwas. Irgendwohin. Nur große Angst konnte Tausende zu so einmütigem und außergewöhnlichen Handeln bewegen. Und ich mußte schnellstens herausbekommen, worin die Gefahr bestand.
Eilig und ohne weitere Beobachtungen der Landschaft anzustellen (was vielleicht ein Fehler war), kehrte ich zur Station zurück. Dort traf ich eine Minute vor zehn ein und stürzte sofort zum Radio. Statt des eingestellten Senders vernahm ich zunächst nur ein Rauschen. Ich zwang mich zur Ruhe, soweit dies in meiner Situation überhaupt möglich war, und drehte am Senderwahlknopf. Dabei stellte ich fest, daß sich die Positionen sämtlicher noch vorhandener Sender etwas verschoben hatten. Als ich die gewünschte Station aus Miami wiedergefunden hatte, war die Nachrichtensendung schon in vollem Gange. So konnte ich nicht feststellen, ob an der Spitze eine Katastrophenmeldung aus meinem Land gestanden hatte oder nicht.
Auf diesem Wege würde ich also in der nächsten Stunde vermutlich nichts Neues erfahren. Deshalb versuchte ich, einen Sender aus einem näher gelegenen Land hereinzubekommen. Aber seltsam: Auch die Nachbarn hatten plötzlich keine Rundfunksender mehr. Der nächste Versuch galt dem Fernseher. Immerhin hatte ich am Morgen noch einen Sender aus Nicaragua empfangen. Doch der Fernseher verhielt sich so, als gäbe es überhaupt keine Sender mehr. Gleichmäßiges weißes Rauschen auf allen Frequenzen. Hatte die Katastrophe nun auch die Nachbarländer erreicht?
Ich versuchte, meine Phantasie zu zügeln. Es konnte ebensogut sein, daß es mir nur durch ein außergewöhnliches atmosphärisches Ereignis nicht mehr möglich war, diese Sender zu empfangen. Das mußte nicht im Widerspruch stehen zum einwandfreien Empfang des Miami-Senders auf Mittelwelle.
Mich erfaßte ein Anfall von Panik. Ich konnte doch nicht hier sitzenbleiben und warten, bis mir etwas geschähe, während alle Welt sich in Sicherheit zu bringen versuchte (oder irgendetwas anderes, mir unverständliches tat)!
Nur eine gute Stunde Fußmarsch lag meine Station von der Siedlung Higuito entfernt. Warum dachte ich an die nächsten Nachbarn erst jetzt? Wahrscheinlich, weil ich in den letzten Monaten wenig mit ihnen zu tun hatte. Der alte Antonio - wo mochte er jetzt sein? Hatte auch er sein Haus verlassen? Und wenn ja - in welchem Zustand? Vielleicht funktionierte sogar das Telefon noch? (Dies hielt ich allerdings schon zu diesem Zeitpunkt für unwahrscheinlich.) Egal! Ich mußte unverzüglich losgehen.
Als ich aus der Hütte trat, hatte sich die Farbe des Himmels verändert. Kein Blau mehr, nur noch strahlendes Weiß. Zuerst dachte ich an weiße Wolken, aber die waren es nicht. Nein, eine glatte, blendendweiße Fläche, aus der der Sonnenball sich nur noch wenig abhob. Ich hatte in diesem Moment keine Kraft mehr zu erschrecken. Und es paßte ja nun wirklich alles zusammen: die unnatürliche Farbe des Himmels und die atmosphärischen Störungen des Rundfunkempfangs.
Am Waldrand trat ich hinaus auf den breiten, aber selten befahrenen Weg mit seinen tiefen Spurrinnen. Das Profil unseres Jeeps war noch deutlich im langsam trocknenden Lehm zu erkennen. Diese Reifenabdrücke gaben mir aus irgendeinem Grunde wieder ein Gefühl der Sicherheit.
Doch nach dreißig Metern hielt ich inne. Ich zwang mich zum Nachdenken. Was nun, wenn das Dorf, wie zu erwarten, genauso leer wie die Stadt wäre? Würde ich nicht direkt in die unbekannte Gefahr hineintappen? Andererseits: Was konnte ich gewinnen, wenn ich im Dorf noch Leute anträfe? Sie hätten dann wohl nicht mehr Informationen über die Geschehnisse in der Stadt als ich. Sonst hätten sie sich ja wie die Stadtbewohner verhalten. Wäre es da nicht vernünftiger, gleich in meiner Station zu bleiben?
Eine lähmende Unentschlossenheit bemächtigte sich meiner. Dies ist keine Phrase! Das Gefühl, nicht weitergehen zu können, überkam mich so plötzlich und mit so einer Wucht, daß ich im Nachhinein nicht glaube, es könnte ausschließlich aus mir selbst geboren sein. Ich trottete zur Station zurück. Dort setzte ich mich an meinen Schreibtisch und stützte den Kopf auf beide Hände. Nach einigen Minuten, die ich ohne jeden Gedanken an meine derzeitige Situation verbrachte, schwand die Mattigkeit genau so rasch, wie sie gekommen war.
Um 10.35 Uhr begann ich mit diesen Aufzeichnungen. Jetzt ist es 11.20 Uhr, und mein Radiosender hat noch immer keine Nachrichten gebracht. Also scheint auch schon Miami betroffen zu sein. Oder?
Der Himmel strahlt jetzt ein gleichmäßiges, weißgelbliches Licht aus, so als habe sich die Sonnenscheibe über das gesamte Firnament ausgebreitet. Die große Eiche auf der Wiese vor unserer Hütte wirft keinen Schatten mehr, denn das Licht kommt von allen Seiten. Ein grandioser Anblick! Ich bin zehn Minuten im Kreis um den illuminierten Baum herumgeschritten. Langsam, voll Entzücken, wie in Trance.
Das Himmelsphänomen macht mir eigenartigerweise überhaupt keine Angst. So außergewöhnlich es auch zu sein scheint, es ist ein beobachtbarer physikalischer Vorgang. Was man so klar beobachten und beschreiben kann, ist der Wissenschaft zugänglich. Das gibt Sicherheit. Aber das ist es nicht allein. Das allseitige Licht spendet angenehme Wärme, ohne die Haut zu verbrennen, wie es die Gebirgssonne im allgemeinen tut. Jedenfalls habe ich schon nach wenigen Minuten im Freien ein so wohliges Gefühl, daß mir der Gedanke an einen Sonnenbrand wie aus einer fernen, vergangenen Welt erscheint. Das allseitige Himmelslicht hat offenbar eine positive, aufhellende Wirkung auf die Psyche. Aber ich glaube nicht, daß dies ein Rauschzustand ist. Mein analytischer Verstand scheint mir vollkommen intakt zu sein. Nur die Angst ist verschwunden.
11.50
Ich kehre zum Schreibtisch zurück.
Eine andere Erklärung für das Verschwinden meiner Angst
kommt mir in den Sinn: Ich schreibe, das heißt, ich arbeite!
Eine Aufgabe zu haben, läßt keinen Raum mehr für
unproduktive Gefühle. Ich arbeite, also lebe ich. Egal, wie das
Ganze ausgeht - ich tue im Moment genau das Richtige, das Notwendige.
11.55
Die Musik im Radio verstummt. Auch
dieser Sender ist nun verschwunden. Ich kurbele alle Wellenbereiche
meines Weltempfängers durch. Nur ein einziger Sender auf
Kurzwelle ist mir geblieben. Er bringt gerade ziemlich
avantgardistische elektronische Musik.
12.00
Mein Sender gibt sich als BBC London zu
erkennen, bringt aber keine Nachrichten.
Es ist ungewöhnlich warm. Das Thermometer zeigt 29°C. Normalerweise liegt die Mittagstemperatur hier auch an Sonnentagen nicht über 20°C.
Ich beschließe zu beobachten, wie Blattschneideameisen, Erdraupen und schwarze Wespen auf die ungewöhnlichen Umweltbedingungen reagieren. (Das sind die Tierarten, die ich in unmittelbarer Nähe der Hütte mit Sicherheit antreffe; vielleicht besuchen außerdem ein paar Kolibris die Blüten im Aufwuchs unserer Eiche.)
12.40
Vom Beobachtungsgang zurück. Das
Ergebnis ist verblüffend. Trotz intensiver Suche habe ich nicht
ein einziges lebendes Tier entdecken können. Außer einer
toten Spinne, die sicherlich schon vor Tagen gestorben war, fand ich
auch keine Kadaver. Vermutlich haben sich alle von mir gesuchten
Arten vor dem strahlendweißen Himmel versteckt. Unerklärlich
bleibt jedoch das Verschwinden sämtlicher Mückenlarven aus
unserer Regentonne.
Inzwischen ist auch der letzte Rundfunksender verschwunden. Es verwundert mich schon nicht mehr. Ich genieße die totale Stille. Noch immer kein Wind.
13.25
(Soeben versagt mein blauer
Kugelschreiber den Dienst, ich schreibe deshalb mit dem schwarzen
weiter.)
Ich raffe mich auf, nach anderen Tieren zu suchen. Nicht weit von hier, nur ein paar hundert Meter, gibt es einen Aussichtspunkt, von dem aus man mehrere Viehweiden sehen kann. Hätten die Bauern die Rinder von den Wiesen geholt, wären sie an der Station vorbeigekommen. Es ist also zu erwarten, daß sich das Vieh noch dort befindet, und mit ihm die Fliegen, Zecken, Kuhreiher, Mistkäfer und was den Kühen sonst noch folgt.
13.35 verlasse ich die Station.
13.55
Den Weg hätte ich mir sparen
können, denn das Ergebnis hatte ich im Voraus geahnt. Natürlich
sind die Kühe verschwunden, und ich bekam auch kein anderes Tier
zu Gesicht.
Unterwegs ging eine seltsame Veränderung mit meinen Jeans vor. Ihre Farbe verschwand bis auf ein schmutziges Graugelb. Ansonsten blieb die Struktur des Stoffes vollkommen gleich. Ein Rundblick durch die Hütte zeigt mir: Nicht alle blauen Gegenstände sind so glimpflich davongekommen. Der Kochtopf hat seine Emaille verloren. Sie ist abgeblättert und liegt nun als dunkelgraues Pulver auf der Herdplatte. Ähnlich erging es dem ehemals blauen Rand meiner Blechtasse. Die blaue Schrift des ersten Teils meiner Aufzeichnungen ist zum Glück nur etwas nachgedunkelt, so daß sie nun schwarz erscheint.
Ich muß lachen. (Warum nur? Wo ist mein gesunder Menschenverstand? Wo meine Angst?) Ich glaube, der Mensch verfügt über ein internes Sicherheitssystem, das es ihm ermöglicht, Unerträgliches zu ertragen. Große Schmerzen zum Beispiel oder Todesangst. Dabei fällt mir auf: Wenn ich "der Mensch" schreibe, dann könnte in der heutigen Situation dieses Wort nicht wie sonst als Gattungsbezeichnung dienen, sondern wörtlich zu nehmen sein. Der Mensch: ich! Auch dieser Gedanke nötigt mich zu einem albernen Gekicher.
Da gehen in der gesamten Natur so gewaltige Veränderungen vor, daß selbst so hartgesottene Gesellen wie die Kakerlaken sang- und klanglos verschwinden. Die Farbe Blau ist einfach gestorben. Und ich schaue dem allen zu, als beträfe es mich nicht. Ja, das alles fasziniert mich und versetzt mich in eine bisher nicht gekannte Art von Freude. Ich fühle mich blendend. Egal, was noch kommen mag, irgendwie bin ich sicher, daß ich übrigbleiben werde.
14.30
Ich zwinge mich wieder zu einer
nüchterneren Betrachtungsweise der Geschehnisse. Mit unseren
herkömmlichen physikalischen und sonstigen
naturwissenschaftlichen Denkweisen ist heute nichts zu erklären.
Normalerweise verschwindet nicht ein Quant Energie, heute ganze
Rinderherden, Stadtbevölkerungen und sogar eine Farbe. Meine auf
relativ stabilen Naturgesetzen ruhende Welt bricht offenbar zusammen.
Ich hatte immer geglaubt, jede weltbewegende Katastrophe müsse zuerst das Blattgrün, die Farbe des Lebens, die empfindlichste aller Farben verbrennen. Wie primitiv ich doch denke! Verbrennen, Feuer, Gewalt - etwas anderes fällt mir nicht ein. Dabei passiert alles so still, beinahe behutsam, jedenfalls was meine Person betrifft.
Daß die Ereignisse keine meßbare Wirkung auf meinen Körper hätten, wie ich noch vor kurzem glaubte, war ein Irrtum. Jetzt erst fällt mir auf, daß ich seit heute morgen weder etwas gegessen noch getrunken habe. Doch ich habe weder Hunger noch Durst.
Die Farbe Blau ist also als erste verschwunden, und das Grün der Pflanzen gibt es noch, wie mir ein Blick aus dem Fenster zeigt. Die Blätter hängen zwar etwas schlaff an den Zweigen, aber sie sehen durchaus lebendig aus.
15.05
Meine Solarmodule liefern plötzlich
keinen Strom mehr, obwohl der Himmel nach wie vor weiß
erstrahlt. Die Batterien sind vollständig entladen! Dabei habe
ich heute mit Ausnahme des Radiohörens keinen Strom verbraucht.
Ein Defekt ist nicht festzustellen. Mein Meßgerät
funktioniert nicht.
Mit einem Mal wird mir bewußt, wie unsinnig es ist, Vertrauen in die technische Ausrüstung der Station zu haben.
15.15
Jetzt ist die Farbe Rot dran! Vor mir
auf dem Schreibtisch liegt eine Schere mit roten Plastgriffen.
Innerhalb weniger Sekunden werden die Griffe schwarz, wobei sie sich
etwas verformen, als ob sie verschmorten. Die Festigkeit des
Materials bleibt jedoch erhalten. Gleichzeitig hat sich mein rotes
T-Shirt entfärbt. Es juckt nun fürchterlich auf der Haut.
Ich ziehe es aus. Auch die anderen roten Gegenstände haben
schnell ihre Farbe verloren. An den Coca-Cola-Flaschen fehlt nur das
Etikett. Eine rote Kunststoffkanne ist dagegen geschmolzen und erst
danach zu einem schwarzen Häufchen Dreck geworden. Ihr Inhalt -
Brombeersaft - rinnt unnatürlich gelb über den Fußboden.
Ich gehe kurz ins Freie. Die rosaroten Blüten der Cavendishia sind spurlos verschwunden. Die roten Streifen auf den Blättern der Bromelien haben sich in Dunkelgrün verwandelt.
Es ging alles so schnell. Das Blau hatte zum Verschwinden etwa drei Stunden gebraucht. Beim Rot hat es höchstens drei Minuten gedauert.
Ein letztes, nutzloses Aufbegehren meines naturwissenschaftlichen Verstandes: Meine Hautfarbe erscheint mir noch völlig normal. Wie also mag jetzt mein Blut gefärbt sein? Ich ritze mich mit einer Rasierklinge vorsichtig am Finger. Aus der Wunde quillt ein kleiner Tropfen roten Blutes! Als ich es mit dem Taschentuch abwische, färbt es sich sofort schwarz.
Also doch! Ich bin etwas Besonderes in dieser verrücktspielenden Welt. Die Gesetze, nach denen die Veränderungen ablaufen, gelten nicht in gleicher Weise für mich. (Geht es hier überhaupt nach Gesetzen?)
Etwa 16.00
Vor zehn Minuten habe ich mich auf
einen hölzernen Klappstuhl unter die große Eiche gesetzt.
Warum ich das tat und warum ich zu meinem Tagebuch nur einen
hölzernen Bleistift und nicht den Kugelschreiber mitnahm, weiß
ich nicht mehr. Es war jedenfalls gut so. Denn eine Minute später
zerfielen augenblicklich alle Gegenstände aus Eisen zu Rost. Als
erstes rieselte das Dach von der Hütte, und gleich darauf fiel
die ganze Konstruktion zusammen; die Nägel hatten sich
aufgelöst. Ich versuche nicht, irgendetwas zu bergen. Wozu? Der
Zerfall geht sicherlich weiter.
Richtig! Meine Gürtelschnalle aus Messing fließt als langgezogener Tropfen an der Hose herab. Ich bin aufgesprungen. Hinter mir kracht der Klappstuhl zusammen. Seine Messingbolzen sind weich geworden. Mein Tagebuch klebt an meiner Hand. Der Umschlag aus Kunstleder löst sich auf. Die Nähte meiner Hose bersten lautlos. Stoffetzen fallen herab. Ich werfe sie auf den Schutthaufen, der eben noch meine Hütte war. Mir bleibt nur ein Stapel Papier in der linken Hand und ein Bleistift in der rechten. Ich muß schreiben. Schreiben heißt leben. Warum? Kein Warum! Wer schreibt, bleibt. (Blöder Spruch.)
Die Welle der Zerstörung ist nun offenbar abgeebbt. Ich streife den klebrigen Slip ab, bin jetzt vollkommen nackt. Aber ich friere nicht. Das bleiche Himmelslicht wärmt. Ich setze mich ins warme Gras.
Was bleibt mir zu beobachten und zu beschreiben? Die Bäume ringsum, ihr schwerer Aufwuchs, Bromelien und Orchideen, die Gräser und Farne. Ich werde genau aufpassen, jede Veränderung registrieren.
Zeitangaben kann ich nicht mehr machen, denn ich habe keine Uhr mehr.
Stunden sind vergangen. Nichts hat sich bewegt. Nicht ein Windhauch. Kein Blättchen regt sich. Ich liege auf dem Rücken und schaue in das Blätterdach der Eiche. Die verbliebenen Farben will ich mir möglichst genau einprägen. Was sollte ich auch sonst tun?
Es muß längst Nacht sein in meiner alten, vergangenen Welt. Doch der Himmel erstrahlt noch immer im gleichen hellen Licht. Wie weiter? Ist die Zeit schon gestorben? Nein, das darf nicht sein! Ich brauche die Zeit, wenn ich sonst nichts mehr brauche. Ich beginne zu zählen. 3600 Sekunden sind eine Stunde.
Bei 650 höre ich auf. Das Zählen hindert mich am Schreiben. Und schreiben muß ich. Ein unbestimmtes Gefühl der Unruhe stellt sich ein. Ich spüre, daß bald etwas passieren wird.
Es ist geschehen! Ein einziger, kräftiger Windstoß hat alles Grün hinweggefegt. Alle Blätter, alle Halme sind mit einem Mal emporgewirbelt und hinter den Bergen verschwunden. Verloren reckt die mächtige Eiche ihre dunklen Äste in den weißen Himmel. Die Wiese um mich ist wie verbrannt. Nur braunes Laub und graue, trockene Halme.
Aber diesmal gibt es eine Ausnahme! Das kleine Zitronenbäumchen hinter dem Haus, es ist am Leben geblieben. Kräftig grün glänzen seine Blätter. Ich berühre sie vorsichtig mit dem Finger. Sie sind gespannt und voll Leben.
Das Zitronenbäumchen ist in dieser Berglandschaft ebenso fremd wie ich. Kurz nach meiner Ankunft hatte Antonio, als wir bei ihm im Dorf eingekehrt waren, mir den Setzling geschenkt. Ich wußte natürlich, daß eine Zitrone im rauhen, sonnenarmen Bergklima kaum eine Überlebenschance hatte, aber ich habe es trotzdem versucht. Im Schutze der Hütte wählte ich ein geeignetes Plätzchen, pflanzte das kleine Ding und goß es reichlich, wenn es zu wenig regnete. Es kam wie erwartet: Graue Pilzrasen zogen sich über die zarten Blättchen. Aber das Bäumchen blieb am Leben. Es trieb immer mehr Blätter, bis es plötzlich stagnierte. Die Triebspitze wurde gelb und fiel ab. Als Ursache fand ich einen Pilz, der die Veredelungsstelle befallen hatte. Ich versuchte das Unmögliche. Mit meinem Taschenmesser operierte ich das verpilzte Gewebe heraus und schloß die Wunde mit Kerzenwachs. Mein Zitronenbäumchen überstand die Tortur. Schon eine Woche später trieb es ein neues Zweiglein.
Das ist nun mehr als drei Monate her. Das Bäumchen hat sich in dieser Zeit ziemlich gut entwickelt, doch es ist immer noch sehr klein. Kaum bis zur Hüfte reicht es mir.
Ein Zitronenbäumchen ist also mein zufälliger Weggefährte. Auf dem Wege wohin? Nirgendwohin. Es gibt keine Wege mehr. Das tote Gras zerfällt zu grauem Staub. Von den Eichen herab rieselt schwarze Asche, obwohl es nirgendwo brennt. Die mächtigen Äste verwandeln sich in dunkle Staubwolken und schweben langsam hernieder. Der ganze Wald, der unsere Lichtung umschloß, wird zu Staub und fließt zu Tal. Die Bäche werden zugedeckt. Ihre tiefen Einschnitte füllen sich mit Staub. Auch die Reste der Hütte sind zerflossen. Nichts als grauer Staub. Von den Farben ist nur Schwarz geblieben. Und Weiß natürlich. Weißer Himmel, grauer Staub, schwarze Schrift, das Zitronenbäumchen und ich.
Die Berge geraten ins Rutschen. Staublawinen gleiten lautlos ins Tal. Bis das Tal selbst nicht mehr da ist. Aufgefüllt mit grauem Staub. Mein Zitronenbäumchen und ich, wir beide stehen nun auf einer Ebene, allseits umgeben von gleichmäßig grauem Staub. Er fühlt sich weich und warm an. Ich kann darin wühlen, ohne schmutzig zu werden. Meine Fußstapfen sind tief und recht dauerhaft. Doch ich kann sie leicht verwischen.
Nichts passiert mehr. Ich sitze in meiner grauen Wüste neben dem Zitronenbäumchen und warte. Was kann jetzt noch geschehen? Ist dies das Ende? Gut, sei es so. Nehmen wir also den Schlußbestand auf. Da sind:
1. Ich, nackt, ohne alle körperlichen Bedürfnisse und Leiden.
2. Eine Aufgabe, nämlich: Schreiben! Dazu Papier und Bleistift.
3. Hoffnung, nämlich: ein Zitronenbäumchen, voller Leben.
4. Das absolute Minimum einer geordneten Welt, nämlich: weißer Himmel oben, grauer Staub unten.
Wenn sich an diesem Bestand nichts ändert, so werde ich doch weiter schreiben. Schreiben von der Hoffnung, solange sie besteht.
Alles fließt!
Die Veränderung geht weiter.
Die Mine ist aus dem Bleistift geflossen, das Papier zu Staub zerfallen. Ich schreibe mit dem Finger in den Staub, rund um mein Bäumchen. Das Bäumchen ist das Zentrum der Welt.
Es scheint ein neues Blatt schieben zu wollen! Es lohnt zu warten. Jetzt müßte es Morgen sein.
Wo ist Osten?
Weiß nicht.
Überall gleich hell.
Nein!
Da ist ein gelblicher Schimmer am Horizont, ein goldener Schein! Irgendetwas wird aufgehen.
Gleich.
Bald.
Es wird wieder etwas kommen.
Dann wird das Bäumchen Früchte tragen.
Schon strahlt der halbe Himmel gelb.
Zitronengelb.
Dies ist der Anfang.