Zeitmaschinen
Bernd Lisek
1995
An einem sonnigen Sonntagvormittag im August saßen Opa Otto und Onkel Paul auf einer Bank im Hühnerhof.
"Ich habe da eine interessante Geschichte gelesen", begann Onkel Paul, "die handelte von einer Zeitmaschine ..."
"Alles Quatsch!" unterbrach ihn Opa Otto.
"Wieso nennst du das gleich Quatsch? Ich habe doch noch gar nichts erzählt. Eine Maschine, die die Zeit vor- und zurückdrehen, verlängern und verkürzen kann - das wäre doch was."
"Ach, was du so daherredest! Zeit und Maschine - das passt sowieso nicht zusammen. Die Zeit ist schon eine interessante Sache. Aber mit Maschinen kommt man ihr nicht bei."
"Warum denn nicht?" Onkel Paul merkte, dass er den alten Schlaukopf auf ein kniffliges, unterhaltsames Thema gebracht hatte.
"Nun -", Opa Otto überlegte eine kleine Weile. "Was können schon Maschinen? Sie tun, was der Konstrukteur ihnen aufgibt. Tak-tak-tak-tak. Immerzu, immer im gleichen Takt. Die Zeit wird kleingehackt. In ganz genau gleiche Stücke. Immer exakter geht das. Nur ja keine Abweichung, keine Veränderung. Nur immer tak-tak-tak."
"Es gibt aber auch Maschinen, die machen nur ein einziges Mal 'tak'." Onkel Paul schien es angebracht, das Problem etwas zu verkomplizieren. "Denk mal an die Atombombe."
"Jaja, die Atombombe! Als Zeitmaschine war die doch ein totaler Versager. Da hatten wir gedacht, jetzt, wo sich alle auf einen Schlag ausrotten können, würde Vernunft einziehen. Ganz neue Zeiten. Aber nein, alles blieb beim Alten. Elend, Zerstörung, sogar Krieg gibt es wieder. Keine Spur einer Zeitenwende. Nein, die Atombombe ist keine Zeitmaschine."
Der große, bunte Hahn nickte bestätigend mit dem Kopf.
"Überhaupt", fuhr Opa Otto fort, "sind die Zeiten heute härter geworden, irgendwie stabiler, weniger biegsam. Jeder muss mit der Zeit gehen; keiner fragt mehr, ob das gut ist."
"Gut-gut-gut!" warf der freche Hahn ein, der durchaus modern sein wollte.
"Früher, als es weniger Maschinen gab, konnten die Leute schon etwas an der Zeit drehen. Damals gab es zum Beispiel noch die langen Winterabende. Man vertrieb sich die Zeit. Das funktionierte prima. Wenn die Großmutter in der dunklen Küche, nur das Herdfeuer flackerte und vielleicht noch ein Kienspan, wenn die Großmutter dann die Geschichte erzählte vom Hans, der das Gruseln lernen wollte, dann hörten wir Kinder gespannt zu und vergaßen die Zeit. Seit wir Maschinen haben, um jederzeit Licht zu machen, und seit das Fernsehprogramm den Abend einteilt, haben wir Großmutters Künste verlernt."
Der schillernde, bunte Hahn reckte seine Brust, als wollte er sagen: "Nur ich bin heute noch ein Künstler."
"Na, ganz ohne Zeiteinteilung wird es wohl früher auch nicht gegangen sein", wandte Onkel Paul ein.
"Das habe ich auch nicht behauptet. Aber wie teilte Großmutter das Jahr ein: in Saatzeit, Heuzeit, Puppenzeit, Stoppelzeit, Kartoffelzeit, Pfifferlingszeit, Spinnzeit, Weihnachtszeit, Fastenzeit, Rohrzeit, Lämmerzeit und was weiß ich noch alles für Zeiten. Und wenn man was draus machte, dann dauerte der Frühling bis Weihnachten. Versuch heute mal, den Mai auch nur um einen einzigen Tag zu verlängern! Du schaffst es nicht."
Der bunte, fette Hahn hatte sich vor Opa Otto aufgebaut und schaute ihn mit schief gehaltenem Kopf ungläubig an.
Onkel Paul konnte den Überlegungen Ottos durchaus folgen. Er spann den Faden weiter: "Warum aber träumen die Leute von Zeitmaschinen, wo sie doch mit ihren Erfindungen anscheinend alles daran setzen, die Zeit in immer schmalere, immer geradere Gleise zu pressen? Weil sie mit ihren Werken am Ende unzufrieden sind und sich wünschen, in andere, bessere Zeiten zu reisen."
"Richtig! Und das kann nicht gehen, jedenfalls nicht mit Maschinen."
"Bist du da ganz sicher?"
"Naja, ganz sicher kann man nie sein. Es gibt immer wieder mal helle Köpfe, denen was einfällt. Einmal, es ist noch gar nicht so lange her, hätte es ja fast geklappt mit den neuen, besseren Zeiten."
"Du meinst den Sozialismus?" fragte Onkel Paul dazwischen.
"Nein, nein, Sozialismus - das war doch auch nur so eine Maschinenwirtschaft, die dann doch nicht funktioniert hat. Aber fast gutgegangen wäre es, als zwei wirklich geniale Erfindungen aufeinandertrafen: die Demokratie und der Kredit.
Du weißt ja: Demokratie ist, wenn derjenige das Sagen hat, der den meisten Leuten einzureden vermag, er könne ihnen das goldene Zeitalter verschaffen. Das kann natürlich niemand. Deshalb kommen auch immer wieder andere dran. Also braucht man nur noch zu versuchen, die Leute für ein paar Jahre zufriedenzustellen. Dafür sind die Chancen natürlich besser.
Und da gibt es nun den Kredit: Du willst einen Melkeimer und kannst ihn nicht bezahlen? - Gut, nimm ihn, und bezahle später mit der Milch. Das Prinzip eignet sich bestens, die Leute vorübergehend glücklich zu machen. Solange die Kühe Milch geben. Mit der Methode haben pfiffige Politiker ..."
Der Hahn stolzierte vor den beiden Männern auf und ab.
"... das goldene Zeitalter dann auch fast erreicht. Ging aber nicht ganz. Man hat zwar unglaubliche Mengen Melkeimer hergestellt, nur an Kühen hat es dann gefehlt. Und die Milch war in der Nähe der Metallhütten auch nicht mehr das, was man seinen Kindern geben konnte.
Jaja, die Zeit zu überlisten gelingt den Mächtigen nicht."
Opa Otto blickte versonnen auf den alten, fetten Hahn.
"Trotzdem wäre eine Reise in die Zukunft doch eine feine Sache", bohrte Onkel Paul weiter.
"In die Zukunft! Wozu? Da kommst du ja sowieso hin. Den ganzen Rest deines Lebens wirst du dort verbringen."
"Wie schrecklich schlau!" maulte Onkel Paul. "Und was haben wir beide schon für eine Zukunft! 81, 82 und Kreislaufstörungen, neinnein, ich rechne mir nicht mehr viel aus."
Das letzte sagte er so, als hoffte er auf Widerspruch. Doch Opa Otto lockte nur den alten, faulen Hahn.
"Aber warte nur", Onkel Paul gab sich nicht zufrieden, "die Jugend findet sich schon nicht mehr damit ab, dass das Leben einfach nur so wegläuft. Kurtchen, mein Enkel, hat mir letztens ein Computerspiel gezeigt, da hatte man schon drei Leben! Hast du eins verpfuscht - macht nichts, du kannst ja von vorn beginnen."
"Ach was, von vorn beginnen. Und was hast du davon? Du musst doch immer wieder exakt zur richtigen Zeit auf den richtigen Knopf drücken, sonst frisst dich irgend so ein albernes Monster. Also zu so einer Zukunft sage ich: Nein, danke."
Opa Otto ergriff den schillernden, schweren Hahn. Der zappelte ein bisschen, aber der Opa drehte ihm die Flügel auf den Rücken, und die Gegenwehr hörte auf.
Onkel Paul überlegte, wie er dem Otto doch noch die Idee einer Zeitmaschine entlocken könnte. Ihm fiel nichts Gescheiteres mehr ein, als einfach zu fragen: "Du alter Schlaumeier hast dich tatsächlich damit abgefunden, dass man heute an der Zeit nicht mehr drehen kann?"
"Ganz im Gegenteil! Ich habe nur erklärt, dass es mit Maschinen nicht geht. Die einfachsten Werkzeuge sind es, welche die Zeit ganz gewaltig verformen können. Sieh dieses Beil hier, nicht viel dran, ganz billig. Und doch ist es in der Lage, die ganze Zukunft meines alten, stolzen Hahnes auf einen einzigen Punkt zusammenzuziehen. So nämlich -"
Wumm! Der Hahnenkopf fiel in den Sand.
Die stillen, sonnigen Sonntage im August zählen zu den schönsten Zeiten, die es gibt, besonders, wenn man einen verständigen Verwandten zum Quatschen hat und einen fetten Hahn im Topf.