Der Tröster der traurigen Hunde

Bernd Lisek

2003


Mord? Ja, sicher. Das waren andere Zeiten damals. Rache, Vergeltung und wieder und wieder Rache. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Lange her. Vorbei. Die Familie hat gebüßt. Memo saß so viele Jahre im Gefängnis. Lasst uns das alles endlich vergessen. Sicher, Memo war nicht der Mörder. Alle wissen das. Hat sich geopfert für die Familie. Guter Junge. Der wirkliche Mörder ist lange tot. Und Memo ist es nun auch. Memo hat schließlich doch noch das erreicht, was für ihn das Glück sein musste. Natürlich, erst danach, als er wieder frei war. Aber immerhin. Und nun ist er tot. Es ist die Zeit gekommen alles zu vergessen. Oder?

Ganz von vorn anfangen musste Memo Castillo nach der Entlassung, als Mittdreißiger. Er besaß praktisch nichts. Ohne Gepäck, nur mit dem Hemd und der Hose, die er trug, hatte ihn die Haftanstalt ausgespien. Bei der Ankunft im Dorf begleitete ihn ein kleiner, struppiger Hund.

Da waren noch seine Frau Juanita und die beiden Kinder. Die Familie hatte sie mehr schlecht als recht durchgefüttert. Kümmere Dich! Jetzt bist du für sie verantwortlich!

Memo verdingte sich als Peón, als Tagelöhner. Als er das erste Mal auf EL ZORRITO arbeitete, trug er nicht einmal eine Machete. Den Spaten hatte er sich geborgt.

Was Memo anpackte, machte er ordentlich. So erwarb er schnell den Ruf der beste Peón in der Gegend zu sein. Wollte jemand einen billigen Weidezaun, engagierte er in Pacos Bar irgendeinen Gelegenheitsarbeiter und handelte den Preis herunter. Für einen wirklich guten Zaun holte man Memo und zahlte gern etwas mehr.

Memo arbeitete stets nur einen halben Tag für Geld, den Rest des Tages bestellte er seinen Garten, oder er baute an seinem Haus. Für den Bau gab Memo kaum Geld aus. Er verwendete, was bei anderen übrig blieb. Dennoch wurde es ein geräumiges, solides Haus. Die Wandbohlen mussten lange auf den ersten Farbabstrich warten. Alles verfügbare Geld steckte Memo in neue, bessere Werkzeuge. So wurde seine Arbeit immer qualifizierter und wertvoller. Er vollbrachte, was andere nicht schafften. Bald galt er als Zauberer unter den Handwerkern. Man traute ihm einfach jede knifflige Arbeit zu.

An einem Tag in der Hurricansaison 1999 hatte sich Cucú, der Verwalter der Lechería1), mit seinem Landcruiser an einem Anstieg im aufgeweichten Lehm festgefahren. Wir waren vier Männer, die ihm herauszuhelfen versuchten. Doch alles Schieben und Stoßen nützte nichts. Das Auto wühlte sich nur immer tiefer in die glitschige Masse hinein. Schließlich begannen wir Steine zu sammeln, die wir vor und hinter den Rädern in den weichen Lehm drückten. Würden wir dies ausreichend gründlich tun, müssten die Reifen irgendwann einmal Halt finden. Ich glaube, wir hatten es fast geschafft. Da bog Memo um die Wegecke.

"Memo kommt, jetzt wird alles gut!" rief Pepe, der älteste von uns. Er und noch ein anderer Helfer wandten sich um und gingen einfach weg. So groß war ihr Vertrauen in Memos Fähigkeiten auch in dieser Situation.

Memo kam lächelnd näher. Er besah sich unsere Steinpackungen, zwinkerte mir zu. Dann band er einen Strick an der Stoßstange des Autos fest. Memo legte sich das andere Ende des Stricks über die Schulter, gab dem Fahrer ein Zeichen und begann mit ganzer Kraft zu ziehen. Tatsächlich gelang es, das Fahrzeug vorwärts zu bewegen. Memos Ruf hatte sich ein weiteres Mal bestätigt.

Man sagte, Memo liebe die Hunde. Immer war er von einigen umgeben. Aber ich glaube, das war nur der Ausdruck einer im Gefängnis eingeübten Solidarität mit den Schwächsten, mit denen, die Hilfe am nötigsten hatten. Wann immer ein Hund gequält, verstoßen, verjagt, ausgesetzt, misshandelt wurde, fand er früher oder später den Weg zu Memo. Dieser nahm sich der geschundenen Kreaturen an. Von der Lechería bekam er billig oder sogar umsonst überschüssige Molke. Damit päppelte er die Schwachen wieder auf. Er tupfte Aloe-Saft auf ihre Wunden und wusch sie sauber. Waren sie wieder einigermaßen auf den Beinen, folgten sie ihrem Wohltäter überallhin. Wenn Memo zur Arbeit in die Berge stieg, hörte man weithin das lustige Gebell seiner Meute. Nicht alle Hunde durften bei Memo bleiben. Einige verkaufte oder verschenkte er. Den zukünftigen Besitzer sah er sich vorher genau an. Streng waren seine Anforderungen an einen Menschen, der Herr eines Hundes werden wollte.

"Jetzt habe ich es geschafft."

Dies sagte Memo in der Osterwoche 2002. Es war das erste Mal, dass Memo mit seiner kleinen Familie zu uns kam. Er konnte sich nun an Feiertagen etwas Ruhe gönnen. So wanderte er mit den Seinen in die Berge. In die Berge, in denen er seit vielen Jahren für andere arbeitete. Er genoss es sichtlich, sich etwas Müßiggang leisten zu können. Sein Sohn hatte inzwischen studiert und verdiente gutes Geld. Auch die Tochter sollte nicht weiter Hilfsarbeiterin bleiben; sie wollte das Abitur nachholen. Die Familie hatte ein schönes Haus, ein ausreichendes Einkommen, hohes Ansehen im Dorf. Memo hatte es wirklich geschafft. Sogar den Tierarzt konnte er bezahlen, wenn seine Hunde ihn brauchten.

Memos Haus war das letzte auf der rechten Seite am Weg in die Berge. Ein paar Männer aus dem Dorf hatten eine glänzende Geschäftsidee. Sie boten an, Farbreste und anderen Giftmüll zu entsorgen. Wenn sie mit ihrem blitzblanken Kleintransporter die Fässer aus der Stadt abholten, machten sie einen sehr professionellen Eindruck. Dann fuhren sie ihre gefährliche Last auf das leere Grundstück hinter Memos Haus, schütteten alles zusammen, zündeten den Giftcocktail an und verschwanden. Die beißenden Rauchschwaden zogen an den Hängen entlang, doch zuallererst umnebelten sie Memos Haus. Das ging jahrelang so.

Im September 2002 wurde Memo krank.

"Typischer Raucherkrebs", stellte der Arzt mit gleichgültiger Stimme fest.

Memo hatte nie geraucht.

Als ich Memo zu Weihnachten das letzte Mal besuchte, war er bereits so geschwächt, dass er das Bett nur noch selten verlassen konnte. So wie ich, kamen in diesen Tagen alle Freunde, um sich von ihm zu verabschieden. Memo wirkte sehr gelassen. Er trank Orangensaft und streichelte beständig seine Hunde.

Bald darauf verlor er das Bewusstsein. Auf der Bank vor seinem Haus saßen nun stets einige Verwandte und warteten schweigend auf das nahe Ende. Die Giftmüllverbrenner hatten ihr Geschäft inzwischen aufgegeben.

Anfang Februar 2003, ich weiß nicht einmal das genaue Datum, starb Memo Castillo. Man begrub ihn noch am selben Tage. Zeit Abschied zu nehmen war schon vorher mehr als genug gewesen. Mit dem Begräbnis endete die Trauer. Das Leben ging weiter seinen Gang. Nur die Hunde konnten es lange nicht verstehen.

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1) Milchwirtschaft