Meine Geier-Familie

Bernd Lisek

05.05.2010


Im Verhältnis mit den Schwarzkopfgeiern (Coragyps atratus) kommt es auf persönliche Sympathien an. Der Praktikant des Jahres 2004 Raphael Schuller verstand sich besonders gut mit ihnen. Die Geier näherten sich ihm auf wenige Meter. Seitdem sitzen sie öfter einmal auf der Zinowiewia am Rand der Hüttenwiese.

In den folgenden Jahren wurde auch meine Beziehung zu den ortsansässigen Geiern enger. 2006 taten sie etwas, was sie sonst nur mit befreundeten Geierfamilien tun: Sie luden mich ein ihr Nest zu besuchen. Die fortwährenden Tiefflüge mit zu mir gewandtem Kopf, stets in Richtung einer bestimmten Lichtung auf der Nachbarfinca, konnten nichts anderes bedeuten. Ich folgte ihnen also. Und richtig: Dort befand sich zwischen Brombeergestrüpp, nicht sonderlich gut getarnt, das Nest, auf das sich die beiden Geier sofort niederließen. Ich konnte nicht erkennen, ob sich ein Junges darin befand. Um die Tiere nicht zu ängstigen, hielt ich gebührenden Abstand und verzichtete auch auf das Herausholen der Kamera, die die Geier noch nie gemocht hatten. (Man hätte auf dem Foto ohnehin nicht viel gesehen.)

Nun war ein Gegenbesuch fällig. Die Geier folgten mir zu unserer Hütte. Einer versuchte sofort auf dem Dach zu landen. Auf dem glatte Oberlichtfenster rutschte er jedoch aus und tat sich offenbar weh. Jedenfalls gab es keinen zweiten Landeversuch.

Als ich 2010 nach zweijähriger Abwesenheit auf EL ZORRITO eintraf, begrüßte mich schon vor dem Tor ein Geier. Sogleich holte er den Rest der Familie heran. Plötzlich standen vor mir auf der Hüttenwiese vier Schwarzkopfgeier. Der mich begrüßt hatte, weißgrau an Kopf und Hals, groß, schwer, etwas behäbig, schien der älteste zu sein. Ich nenne ihn seitdem Großvater. Natürlich kann es auch eine Großmutter sein - die Geschlechter kann ich nicht unterscheiden. Die zwei gleich aussehenden sind, wie sich später herausstellte, ein Paar. Den vierten Vogel, schlank und etwas dunkler, hielt ich für ein Jungtier vom vergangenen Jahr. Ihn sah ich in der folgenden Zeit selten. Der Großvater grüßte mich fast täglich, blieb aber ansonsten auf Distanz. Das Paar jedoch suchte immer mehr meine Gesellschaft.

Stundenlang spazierten die beiden über die Hüttenwiese. Wenn es regnete, stellten sie sich unter das Vordach der Hütte.

Zwei Wochen nach meiner Ankunft fand ich es schon ganz normal, die beiden Geier in meiner Nähe zu sehen. Ich ging zum Tor. Auf dem Tor saß mein Geierpaar. Diesmal wollte ich sie aus Nahdistanz fotografieren. Doch vor dem Kameraauge zeigten auch diese beiden große Furcht. Also machte ich ein paar Aufnahmen aus einiger Entfernung, steckte die Kamera weg und ging auf das Tor zu. Die Geier blieben sitzen. Ich trat ganz dicht heran. Sie drehten den Kopf etwas zur Seite und schauten mich an. Was nun? Näher. Noch näher. Die Hand ausgestreckt. Schon berührte ich den einen Geier am Rücken. Er ließ es geschehen zitterte nicht einmal. Ich streichelte ihm ganz langsam das Gefieder. Es schien ihm zu gefallen. Ich wollte ihn am Hals streicheln, doch da zuckte er zurück. Gut, also nicht am Hals. Auch nicht am Kopf. Aber über den Rücken strich ich auch dem zweiten Tier.

Wahrscheinlich gehört es zum sozialen Verhalten der Schwarzkopfgeier, sich gegenseitig das Gefieder zu begutachten. Klar, dass sich der erste Geier nun für mein Gefieder interessierte. Ich hielt ihm den Arm hin. Ganz, ganz vorsichtig zupfte er an meinem Anorakärmel. Der dünne Nylonstoff schien ihm zu missfallen. Er sah mich lange an und ich interpretierte seinen Blick so: „Mit diesen Federn ist es ja kein Wunder, dass du nicht fliegen kannst!“

Von jenem Tag an wichen die beiden Geier nicht mehr von meiner Seite. Ging ich zur Wegepflege oder zum Zaunbau, dann hüpften sie vor mir her. War ich dann bei der Arbeit, wurde es für die beiden natürlich langweilig. Also schaukelten sie auf niedrigen Ästen. Das gefiel mir gar nicht. Allzu oft brachen sie etwas ab.

Das Vertrauen, das mir meine beiden Geier entgegenbrachten, ließ sich nicht auf andere Menschen übertragen. Nicht einmal meinen Freund Pedro ließen sie näher als dreißig bis vierzig Meter an sich heran.

Bald bemerkte ich, dass sich die Art der Spiele meiner beiden Gefährten veränderte. Nun sah ich täglich ihren heftigen, von eigenartigen Geräuschen begleiteten Balzspielen zu.

Eines Tages begannen die Geier einen Platz im Arboretum nach ihren Vorstellungen herzurichten. Mir war schnell klar: Sie wollten in meiner Nähe brüten. Doch das konnte ich an dem Ort nicht zulassen. In den nächsten Tagen würde ich mit Pflegearbeiten im Arboretum beginnen und die notwendige Deckung für das Nest wäre nicht mehr gegeben. Wie sollte ich das meinen Geiern sagen? Ich trampelte heftig auf ihrem gewählten Nistplatz herum. Sie verstanden sofort. Noch am selben Tage wählten sie eine kleine Freifläche im Sumpf zu ihrem Lieblingsaufenthaltsort. Vermutlich legten sie dort ihr Nest an. Ich störte sie nicht dabei.

Nun ist es Mai geworden. Seit ein paar Tagen ist mein Geierpaar nicht mehr zu sehen. Die Brut hat wohl begonnen. Wenn sie kommen werden, um mir ihren Nachwuchs zu präsentieren, werde ich nicht mehr da sein.