Fiesta

Bernd Lisek

1993


Ich, Isabel Cortez Calderón, mit dem Namen der Königin, die den großen Entdecker aussandte, mit dem schmutzigen Namen des Eroberers und Peinigers meiner indianischen Vorfahren und dem erhabenen Namen jenes Präsidenten, der den Krieg besiegte, ich werde heute beginnen, mir meinen Anteil von dieser Welt zu nehmen. Hab Dank, Pater Immanuel, daß du mich lehrtest, meinen Namen zu verstehen.

Leb wohl, Mutter, mach dir keine Sorgen. Das Fest ist im Haus der Gringos. Maica, die Spanierin, nimmt mich mit. Seit wann Maica meine Freundin ist? Seit heute.

Kannst dich freuen, Celia, hast bald ein Bett für dich allein. Paß auf, Paco, daß sie dich nicht erwischen mit deinem Koks. Keine Angst, Alejandro, heute ist Samstag, da kommt Vater nicht so schnell aus der Kneipe. Leb wohl, Maria, Schwesterherz, hab Dank für die Schminke. Die rote Bluse paßt dir doch sowieso nicht mehr. Ich werde die Schönste sein.

Guten Abend. Wer ich sei? Maicas Freundin, hat sie mich nicht angekündigt? Nur jetzt nicht rausgeworfen werden. Cathy, die Frau des Hauses, winkt mich herein. Geschafft.

Ich bin die Schönste. Die Blicke der Männer zeichnen mit schmeichlerischer Langsamkeit meine Figur nach. Männer! Was für Männer sind dennn das hier? Rasierte und bärtige, mit und ohne Krawatte, der eine hält sich an seiner aufgeputzten Frau fest, ein anderer am Whiskyglas. Keiner unter dreißig. Endlich kommt Maica.

"Bei uns zu Hause ging mal wieder alles drunter und drüber. Über eine Stunde haben meine lieben Brüder für ihre Frisuren gebraucht. Und dann konnte sich Juan nicht für ein Parfüm entscheiden. Schlimmer als eine Filmdiva! Hoffentlich kommen die Jungs bald."

Da stehen sie schon in der Tür. Juan ist blond wie Maica, eine Seltenheit in diesem Land. Wie männlich-stolz er den Kopf in den Nacken wirft! Sein Bruder Miguel, kleiner und noch breitschultriger, trägt einen lustigen Schnurrbart. Kommt her, setzt euch zu uns. Das Bier steht schon bereit.

Nie darf die Zigarette ausgehen. Lange geübt, die lässige Haltung der Hand mit dem Glimmstengel. Gieß ein, Juan, immer gieß ein. Mein Durst ist grenzenlos. Rück nur näher heran, Miguel, meine Fröhlichkeit reicht für euch beide.

Ich tanze unheimlich gut. Komm, Juan, tanz mit mir.

Tanz, tanz, tanz!

Mein Blut kocht. Dein Gesicht glüht. Gut so! Jetzt das Solo des Marimbero. Die anderen halten inne. Sie schaun uns zu. Gut so! Ich bin die Prinzessin. Wirble mich durchs Zimmer! Schneller, schneller! Nicht aufhören! Niemals aufhören! Der Boden schwankt, ich berühre ihn fast nicht mehr. Ich schwebe. Halt mich fest, Juan. Hoppla, ich versinke in einer Wolke von rosarotem Tüll ...


Wo bin ich?

Ein Saal wie im Museo de Oro, nur daß die Vitrinen fehlen. An den Wänden, fensterlos wie das Hinterzimmer unserer Hütte, tausend gekreuzigte Teddybären. Auf dem kalten Steinboden hocken Gruppen regloser Gestalten, in rostrote Decken gehüllt. Sie haben keine Gesichter, aber ich kenne sie alle. Da ist Pepe mit seiner Bande der Straßenkinder. Daneben Manuela und der Kellner aus der Bar an der Ecke. Der Kinovorführer hat seine sechs Kinder um sich geschart. Die Flüchtlinge aus Kolumbien senken die Köpfe tiefer als alle anderen. Großmutter Ursula und Großvater José halten sich an den Händen.

Paco! Alejandro! Was macht ihr hier?

Niemand antwortet. Die kleine Celia schluchzt leise.

Maria, Schwester! Sag doch was!

Die schwangere Maria wendet sich ab.

Da ist ja auch Vater! Den Hosenriemen in der Rechten, die Ginebraflasche in der Linken, wankt er von Gruppe zu Gruppe, schlägt zu, schlägt wahllos, schlägt leidenschaftslos, ohne Haß und ohne Maß, wie immer. Die Geschlagenen ducken sich noch tiefer, kein Aufschrei, keine Klage.

Ich will fortlaufen, aber die Beine gehorchen nicht.

Vaters Schnapsflasche ist leer. Da steht er vor Maria.

"Hure!"

Gewitter aus Tritten und Schlägen. Marias Leib öffnet sich. Dampfender Strom von Eiter und Blut, darauf treibt das Christuskind. Vater packt es, schlägt zu mit der Flasche, zerstampft es, stößt zu, bis er erschöpft vornüber kippt. Er löst sich auf. Natürlich, Alkohol ist ein Lösungsmittel.

Die Cocina, der kleine Blechofen, über den sich Mutter beugt, schwitzt Lava aus.

"Mutter, was kochst du da?"

"Meine namenlose Liebe. Aber schau nur, wie sie zerrinnt. Sie glüht und zerrinnt und verbrennt uns alle. Das kommt, es gibt kein Gefäß für sie."

Die roten Steinplatten verziehen ihre präkolumbianischen Gesichter. Als sie genug Kinderblut und Lava getrunken haben, beginnen sie zu tanzen, wiegen sich hin und her. Die Decke, eben noch starre Betonplatte, wölbt sich, schwingt auf und nieder, überzieht sich mit einem Netz zitternder Risse.


Wo bin ich?

Knirschender Putz, leises Gläserklirren. Die Risse an der Decke im Mondlicht. Alles schwankt. Ein Erdbeben! Von der Straße weht aufgeregtes Stimmengewirr herein. Ich müßte jetzt eigentlich auch hinauslaufen. Aber ich kann nicht, ich habe es doch eben probiert. Und wozu auch? Mir kann ja nichts geschehen. Selbst Vater hat mich nicht erwischt. Christus ist für mich gestorben.

Ich lasse mich hinabsinken in das tiefe, warme, schützende Schwarz eines traumlosen Schlafes.

Oh Schreck! Das hier ist nicht mein Bett. Und wer sitzt da im Korbsessel? Cathy. Also bin ich immer noch in ihrem Haus.

"Ausgeschlafen? Wie fühlst du dich?" Cathy schaut mich an, wie eine besorgte Mutter ihr krankes Kind betrachtet. Schrecklich!

"Wie bin ich hierher gekommen? Was ist passiert?"

"Ich habe dich ins Bett gebracht. Du warst so betrunken, die Jungs hätten mit dir machen können, was sie wollten."

"Was wollten sie denn?"

"Na, du weißt schon."

"Nein, wirklich nicht."

"Stell dich doch nicht blöd! Denk mal daran, was deiner Schwester passiert ist."

"Maria? Die ist schwanger. Weil sie nicht genug gebetet hat, sagt Mutter."

"So, glaubst du. Wie alt bist du?"

"Fast vierzehn."

"Und wie man schwanger wird, das weißt du nicht so genau?"

"Na ja ..."

Eine gute Stunde später, die Sonne steht schon hoch am Himmel, weiß Isabel mehr als ihre große Schwester, mehr als alle ihre Freundinnen. Und weniger als gestern. Sind denn alle Männer gleich? Gibt es überhaupt Liebe ohne Gewalt? War Christus doch umsonst gestorben? Zu viele Fragen für einen schmerzenden Kopf.

Als Isabel das Barrio San Rafael erreicht, treten die Frauen aus den niedrigen Türen der weißen, grünen und blauen Häusern, zerren ihre Männer hinter sich her, die Männer, die in den schwarzen Anzügen, offenen, weißen Hemden und mit schlaftrunkenen Gesichtern einander gleichen wie Zwillingsbrüder, schleppen die Männer zur Kirche, wie man Hunde zum Tierarzt führt.