Clinton

Bernd Lisek

1996


Gehorchen hatte er beim Militär gelernt. Befehle verstand er in allen Sprachen der Welt: Castellano, Tzeltal, Tzotzil, Englisch, Handzeichen, Fußtritte. Sogar die Sprache der Augen war ihm vertraut. Wahrlich ein Grund stolz zu sein.

Wie er hinter den Bretterzaun gekommen war, konnte er sich nicht mehr erinnern. Damals, als ganz kleines Hündchen. Schwarz mit schmutziggrauen Flecken. Niemand konnte wissen, was einmal aus ihm werden würde.

Agostino, ein kleiner, rundlicher Mann mit lustigem Schurrbart, hatte ihn immer mit seinen großen, schwarzen Augen angeschaut. Das war das erste Schöne, das ihm widerfuhr.

Von Agostino hatte Clinton ein wunderschönes rotes Halsband und seinen Namen bekommen. "Clinton" hieß hierzulande nicht jeder Hund! Er musste schon etwas ganz Besonderes sein. Agostino glaubte an ihn und Clinton mühte sich jeden Wunsch seines Herrn zu erraten. Der Soldat lehrte ihn dies und das. Für Clinton war es ein Spiel.

Die Welt war viereckig. An jeder Ecke ein roh zusammengezimmerter Ausguck. Clinton durfte nie hinauf. Die Soldaten stießen ihn immer zurück. In die Baracke der Mannschaft durfte er hinein, wann immer er wollte. Aber meistens wollte er nicht. Dort roch es nach Schnaps und nach Waffenöl. Das Holzhäuschen des Capitán mied er aus angeborenem Respekt vor Autoritäten. Dabei musste der Capitán ihm wohlgesonnen sein, sonst hätte er das Hündchen im Lager sicher nicht geduldet.

Schließlich war Krieg. Deshalb die Wachposten mit den immer wieder blank geputzten Gewehren. Der Feind war irgendwo außerhalb des Brettergeviertes. Die Männer fürchteten den Feind nicht. Sie rissen ihre Witze über ihn. Sie wollten ihm die schwarze Maske vom Gesicht reißen und ihn längs und quer aufschlitzen. Oder lebendig verbrennen mitsamt der ganzen verdammten Selva. Denn sie wussten nicht, wo der Feind zu finden sei. Irgendwo draußen. Überall.

Clinton lief stundenlang am Bretterzaun auf und ab, von Spalte zu Spalte, lugte hinaus. Aber draußen war kein Feind zu sehen. Ein breiter, steiniger Weg lief am Zaun entlang und dann den Hang hinauf. Manchmal kroch ein klapperiger Bus den Bergen entgegen. Er war ganz und gar zerbeult und verrostet. Clinton kannte die sauber gewaschenen Militärfahrzeuge. Er wunderte sich, dass der Bus überhaupt noch fuhr. Die Leute im Bus konnte er nicht erkennen. Doch die Indios, die vorübergingen, gefielen ihm. Die Frauen trugen bunte Tücher um die Schultern. Manche balancierten ohne Mühe auf ihren Köpfen große, in Stoff eingeschlagene Pakete. Morgens und nachmittags gingen die Schulkinder vorbei. Sie trugen ihre Hefte entweder unter dem Arm oder in farbenprächtigen Beuteln auf dem Rücken. Die Männer hatten dunkelbraune, ernste, gütige Gesichter. Am Bretterzaun schritten sie eilig vorüber. Niemand blickte zur Seite. Die Körper der Männer, Frauen und Kinder waren eigenartig angespannt.

Wie gern hätte Clinton die farbigen Tücher beschnuppert, wäre den bunten Quasten nachgesprungen, die an den Lenkstangen der Fahrräder lustig im Winde tanzten. Doch das Tor blieb verschlossen.

Manchmal knotete Agostino einen harten, festen Strick an Clintons Halsband. Das andere Ende des Stricks schlang er um den Fahnenmast. Clinton nahm ihm das nicht übel. Er war nur traurig. Denn nun öffnete sich das Tor für einen kleinen Moment. Ein paar Soldaten stiegen auf einen Wagen und fuhren hinaus. Clinton zerrte an der Leine, doch sie hielt. Er kaute auf ihr herum, aber vergebens. Agostino war fort, und Clinton saß am Fahnenmast. Er war traurig. Er langweilte sich. Er legte den Kopf auf die Pfoten, aber er konnte nicht schlafen. Immer wieder blinzelte er zum Tor, ob der Wagen mit Agostino nicht zurückkäme.

Wenn der Mannschaftswagen dann nach Stunden endlich wieder auf den Hof rumpelte, sprangen die Männer schmutzig, müde und mürrisch ab und trotteten zur Baracke. Auch Agostino hatte dann keine Lust mit dem übermütigen Clinton zu spielen.

Clinton lernte schnell zu erkennen, wann sich die Männer auf eine solche Ausfahrt vorbereiteten. Immer wenn zwei oder drei Soldaten mit Stahlhelmen auf dem Hof auftauchten, überfiel ihn ein Zittern. Er versuchte rasch, sich irgendwo zu verstecken. Nein, angebunden zu werden war doch zu unangenehm. Man wusste nie, wie lange das dauerte. Clinton drückte sich hinter die Regentonne, kroch in den Reifenstapel oder schlüpfte in die hinterste Ecke der Baracke. Einmal versuchte er es sogar zwischen den Rosenstöcken des Capitán. Aber es half nichts. Das Lager war klein. Agostino entdeckte ihn immer.

Manchmal kamen die Soldaten mit nassen Haaren zurück. Dann hatten sie in einem Fluss gebadet. Es musste schön am Fluss sein, denn wenn die Männer von dort kamen, schwatzten sie fröhlich und rissen Witze. Clinton hörte genau zu, was die rauhen Kerle über den kleinen, heiteren Fluss zu erzählen hatten. Vieles konnte er sich nicht recht vorstellen, denn er war niemals dort gewesen. Nur so viel begriff er sofort: Der Fluss plätscherte irgendwo in den Bergen dahin, dort, wo die Indios hingingen, wenn sie aus der Sichtweite des Lagers verschwunden waren. Wie gern hätte Clinton auch einmal den Fluss gesehen!

Doch es blieb dabei: Niemals durfte Clinton hinaus. Immer öfter langweilte er sich. Im Lager gab es für ihn nichts Neues mehr zu entdecken.

Dann kam jener Morgen, an dem Agostino wortlos an Clinton vorbeistapfte. Er trug seine gefleckte Felduniform, den mit ebensolchem Tuch überzogenen Stahlhelm, das Gewehr und einen großen, schweren Sack. An einem Riemen baumelte sein zweites Paar Stiefel. Agostino schaute zur anderen Seite. Clinton folgte ihm bis zum Wagen. Die Soldaten, die alle genauso bepackt waren wie Clintons Freund, kletterten auf die Ladefläche. Auch Agostino stieg auf. Er blickte Clinton noch immer nicht an.

Clinton hatte gleich gespürt, dass an diesem Tag etwas nicht stimmte. Es kam öfter vor, dass Agostino schlechte Laune hatte und ihn nicht beachtete. Aber heute war irgendetwas anders. Agostino hatte nichts gesagt, nur sein Körper hatte gesprochen.

Ganz deutlich: "Ich muss dir heute weh tun."

Als Clinton die Stiefel erblickte, das zweite, blankgeputzte Paar am Riemen, packte ihn die Angst. Was würde heute passieren? Warum hatte ihn Agostino nicht wie sonst festgebunden? Gerade besann er sich, dass nichts ihn hinderte, seinem Freund zu folgen, auf den Wagen zu springen, gerade setzte er zum Sprung an, da packte ihn von hinten eine kräftige Hand. Der Wachposten band ihn am Fahnenmast fest, wie es sonst immer Agostino getan hatte.

Fast war Clinton froh, dass nun doch alles wie sonst ablief. Aber warum hatte sich Agostino so eigenartig verhalten? Und die Stiefel! Die Stiefel, die am Riemen hingen - warum hatte Agostino sie mitgenommen? Vielleicht würde er es am Abend erfahren. Clinton wartete.

Die Sonne hatte gerade den Mittagspunkt überschritten, da öffneten die Posten das Tor. Der bekannte Wagen kehrte zurück. Die Soldaten sprangen ab. Aber was waren das für Leute? Clinton kannte keinen einzigen. Agostino war nicht zurückgekommen. Wo steckte er nur?

Die Neuankömmlinge trugen genau solche Säcke wie Agostino am Morgen. Jeder von ihnen hatte ein zweites Paar Stiefel bei sich. Was an diesem Tag vor sich ging, musste etwas mit den Stiefeln zu tun haben.

Keiner achtete auf Clinton. Er jaulte ein paarmal, bellte sogar einmal ganz vorsichtig, denn er hatte Durst. Niemand schien ihn zu hören. Die Männer waren längst in der Baracke verschwunden und ließen sich nicht mehr blicken. Es wurde Abend und es wurde Nacht. Wo Agostino nur blieb?

Am nächsten Morgen wurde der Rest der Mannschaft ausgetauscht. Sogar ein neuer Capitán bezog das Blockhaus. Agostino kam nicht wieder. Einer der fremden Soldaten hatte Clinton eine Wasserschüssel hingestellt. Clinton stürzte sich so gierig darauf, dass das meiste ausschwappte. Nach kurzer Zeit war er wieder durstig.

Er blieb festgebunden. So wartete er drei Tage und drei Nächte. Er hatte nichts zu tun und nichts zu denken. Er wartete immer noch auf Agostino. Da stieg Groll in ihm auf. Der Groll hatte viel Zeit, sich in Clintons Kopf festzusetzen. Er verwandelte sich in richtigen Hass. Zuerst wusste Clinton nicht, was er eigentlich hassen wollte. Es gab nur ein Bild, das immer wieder durch sein aufgewühltes Gemüt strich: die Stiefel! Die Stiefel, die Zweitstiefel, die sauber gebürsteten, wurden für Clinton zum Symbol der Untreue. Und so würde er für den Rest seines Lebens Militärstiefel hassen. Als am Morgen des vierten Tages ein junger Mann mit Bürstenhaaren ihn losband und ihm eine Schale mit eingeweichtem Hundefutter vorsetzte, wusste er, er würde Agostino niemals wiedersehen.

Mit der neuen Mannschaft änderte sich Clintons Leben. Die Neuen verlangten unbedingten Gehorsam. Das machte ihm nichts aus. Gehorchen hatte er schon gelernt. Aber sie verlangten nun ganz andere Sachen von ihm als Agostino. Immer wenn eine größere Gruppe Indios sich auf dem Weg näherte, musste er bellen. Am Anfang machte das sogar Spaß. Er stellte sich vor, er spräche mit den Indios. Doch die Leute reagierten nicht auf seine Signale. Sie verstanden ihn nicht.

Clinton übte seine Stimme. Er konnte auf die verschiedensten Weisen bellen. Am liebsten ließ er seine Bellstrophen am Ende in langgezogene, hohe Töne übergehen. Ein richtiger Gesang. Die Soldaten mochten dieses Jaulen nicht. Es hörte sich wohl zu friedlich an. Besonders laut gelang Clinton das Bellen, wenn er mit aller Kraft kurze, abgehackte Töne hervorstieß. Sein Ruf hallte weit in die Berge hinein. Auch damit waren die Soldaten schließlich nicht mehr zufrieden. Sie wollten, dass er die Leute auf dem Weg erschreckte. Je wütender sein Gekläff ausfiel, desto mehr lobten ihn die Soldaten. Wenn er zwischen heiseren, misstönenden Kläfflauten düster knurrte und fauchte, dann freuten sie sich. Klar doch, auch das lernte Clinton. Er gehorchte, weil das sein Beruf war. Aber es machte ihm keinen Spaß. Die Leute da draußen hatten ihm nichts getan, ja, er fand sie sogar sehr sympathisch. Er wollte ihnen nichts tun. Und doch musste er sie erschrecken. Befehl war eben Befehl!

Einen richtigen Freund fand Clinton unter den neuen Soldaten nicht. Der Große mit dem Bürstenhaarschnitt fütterte ihn. Er war es auch, der Clinton am meisten lobte und tadelte. Aber das war alles kein Spiel mehr. Immer, wenn sich der Mann mit ihm beschäftigte, legte er Clinton an die Leine.

Eines Tages erschien ein Soldat, den Clinton eigentlich wegen seines Geruches nicht mochte, auf dem Hof mit einem interessanten Stück Stoff in der Hand. Es war ein Fetzen aus genau so einem Tuch, wie es die Indio-Frauen immer trugen. Blau mit dünnen weißen und roten Streifen. Clinton lief herbei, um zu schnuppern. Hocherfreut nahm er den neuen Geruch in sein Gedächtnis auf.

Der Soldat wickelte den Lappen um einen Knüppel. Er befahl Clinton zu bellen. Richtig wütend und gemein musste er bellen, obwohl kein Fremder in der Nähe war. Dabei hielt der Mann den Knüppel mit dem Fetzen dicht vor Clintons Nase. Was wollte er nur? Plötzlich schob er das Ding zwischen Clintons Zähne. Clinton wich zurück. Der Vorgang wiederholte sich, bis Clinton begriff: Er sollte beißen lernen. Und er lernte auch das. Es war ihm zuwider, aber auf Befehl biss er in das indianische Tuch.

Dann durfte Clinton sogar das Lager verlassen und er freute sich nicht einmal darüber. Draußen blieb er immer an der Leine. Die Soldaten banden ihn am Torpfosten kurz an. Da musste er sitzen, bis er wieder abgeholt wurde. Wenn Indios vorbeikamen, hatte er zu bellen. Sie machten dann einen Bogen um ihn und hasteten am gegenüberliegenden Wegrand entlang.

Nur ein Indio schien keine Angst zu haben. Das war ein außergewöhnlich großer Mann mit breiten Schultern. Er trug einen zerknitterten Hut, der vor Jahren einmal weiß gewesen sein mochte, und ein ebensolches Hemd. Sein Name war Mateo. Er schritt in der Mitte des Weges daher und ließ sich von dem kläffenden Hund nicht stören. Der Wachposten hinter Clinton zischte böse und Clinton gehorchte dem Befehl. Er ließ sein gemeinstes Knurren hören. Als Mateo nicht auswich, schnappte Clinton nach seinem Hosenbein. Doch auch das beeindruckte den Indio nicht. Nein, er wehrte sich sogar! Ganz plötzlich trat er nach dem Hund. Ziemlich lässig und ohne besondere Wut. Clinton konnte schnell genug zurückspringen und so dem Tritt entgehen. Auch das hatte er schon gelernt. Und nun hatte er auch erfahren, dass Indios sich manchmal wehren.

Zuerst verstörte ihn diese neue Erfahrung, aber eigentlich war das kein Grund sich zu wundern. Nur eines traf ihn sehr: Was hatte Mateo für Stiefel an! Clinton hatte den kräftigen Indio schon ein paarmal gesehen, aber erst als er seinem Tritt ausweichen musste, fielen ihm seine Stiefel auf. Es waren Militärstiefel, uralt und heruntergekommen, an den Rändern mit Draht geflickt, aber eben doch Militärstiefel. Und auf Leute mit solchen Stiefeln war ja bekanntlich kein Verlass. Vielleicht hatte es doch Sinn, diese Leute zu ärgern. Spaß machte es jedenfalls nicht.

Clintons Tage am Torpfosten vergingen unendlich langsam. Die meisten der Indios kannte er bald und die Indios kannten ihn. Kurz nach Sonnenaufgang, Clinton war um diese Zeit manchmal noch gar nicht draußen, kamen die Frauen, die schwere Lasten an ihren Stirnbändern zu hängen hatten und ihre Babies vor der Brust trugen. Sie gingen zum Markt. Später folgten Guernina, Iolanda, Carlos, Pepe und die anderen Kinder auf dem Weg zur Schule. Nachmittags kehrten die Schulkinder in kleinen Gruppen in die Berge zurück. Sie hielten zwar meistens den gebührenden Abstand zu Clinton, aber ängstlich blickten sie nun nicht mehr drein.

Großmutter Maria kam jeden zweiten Tag. Sie trug lange schwarze Zöpfe, in die bunte Bänder eingeflochten waren. Marias zerfurchtes, stolzes Gesicht mochte Clinton besonders. Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, vermied er es, sie anzubellen. Oder er bellte nur ein kleines bisschen.

Mateo kam meist in Begleitung anderer Männer. Teofilo, Tomás, Juan, Francesco und andere, deren Namen Clinton noch nicht aufschnappen konnte. Sie alle gingen nun nicht mehr zur Seite, wenn sie angebellt wurden. Clinton nahm das hin ohne sich weiter darüber zu ärgern. Nur wenn ein Soldat ihn aufstachelte, kläffte er ein wenig mehr.

An einem regnerischen Morgen im Mai näherten sich drei Gestalten vom Gebirge her. Rechts ging Großmutter Maria, das konnte Clinton schon bald erkennen. Der Mann auf der linken Seite war Mateo. Zwischen ihnen lief ein Mädchen, das Clinton nie zuvor gesehen hatte. Sie trug ein dunkelrotes Kleid mit einem großen weißen Spitzenkragen. Das Tuch, das sie wegen des Nieselregens um Kopf und Schultern geschlagen hatte, glich genau dem, welches Maria trug. Sie schienen zur selben Familie zu gehören. Maria lief wie immer barfuß, das Mädchen trug billige blaue Kunststoffschuhe.

Als die Indios näherkamen, konnte Clinton in das offene, freundliche Gesicht des Mädchens blicken. Sie schaute ihn an und kam direkt auf ihn zu. Sie lächelte. Eigentlich hätte Clinton jetzt fürchterlich kläffen müssen, aber er stand wie versteinert. Nur seine Schwanzspitze bewegte sich. Das Mädchen lächelte immer noch. Sie war ihm bis auf einen Schritt nahegekommen. Mateo grinste. Maria hatte sich verstohlen abgewandt.

Wie dünn die Kleine war, wie zerbrechlich! Und wie große Augen sie hatte! Clinton konnte sich von ihrem Anblick nicht losreißen. Da war auf einmal wieder die Erinnerung an die glücklichen Tage mit Agostino. Er konnte sich nicht satt sehen an ihren großen, dunklen Augen. Plötzlich fühlte er sich über eine Wiese voller Blumen schweben und vor ihm tanzte das Mädchen im dunkelroten Kleid.

"Weitergehen!" brüllte der Wachposten.

Der Traum zerstob. Die drei Indios entfernten sich eilig. Das Mädchen blickte sich nicht einmal mehr um.

In den nächsten Tagen kam das Mädchen gemeinsam mit den Schulkindern aus den Bergen. Clinton spitzte die Ohren und erfuhr: Das Mädchen hieß Rosalinda. Sie war zehn Jahre alt und Mateos Tochter. Von nun an ging sie in den Ort hinter dem Militärlager zur Schule, zur Segundaria.

Immer wenn Rosalinda an Clinton vorbeiging, warf sie ihm einen kurzen, freundlichen Blick zu. Mehr Vertraulichkeit gegenüber einem Armeehund konnte sich Mateos Tochter wohl in Gegenwart ihrer Mitschülerinnen nicht leisten.

Als die Regenzeit vorüber war, lernte Clinton den Fluss kennen. Es war an einem heißen, staubigen Tag. Die Sonne senkte sich schon der Kordillere entgegen. Der Soldat mit den Bürstenhaaren führte Clinton an der Leine zum Mannschaftswagen und zum ersten Mal durfte der Hund hinaufspringen. Während der Fahrt klemmte er zwischen den Stiefeln der Männer. Wenn er sich hoch reckte, konnte er über die Heckklappe nach draußen blicken.

Der Weg in die Berge stieg zuerst steil an und zwängte sich dort, wo der Pinienwald begann, hinter einer scharfen Linkskurve durch einen Einschnitt. Von dort aus war das Lager schon nicht mehr zu sehen. Nach ein paar Kurven erreichten sie das erste Hochplateau. Links des Weges ragte ein Hügel steil auf. Er war von hohem Gras bedeckt, dessen Blütenrispen sich im Winde wiegten. An einigen Stellen lugte nackter roter Boden hervor. Auf der rechten Seite dehnte sich ein Maisfeld, eine Milpa, bis zum fernen Waldrand. Die kräftig grünen Pflanzen hatten dicke Kolben angesetzt. Bald würden sie trocken und braun werden. Dann kam die Zeit der Ernte. Auch unter den Soldaten gab es einige Maisbauern. Sie hatten oft von der Arbeit in ihren Milpas erzählt.

Hinter dem Maisfeld senkte sich der Weg zur Flussbrücke herab. Die Brücke bestand nur aus einem Betonteil, nicht viel breiter als die Wagenspur. Ein Geländer hatte sie nicht. Als der Wagen vorsichtig darübergerollt war, erblickte Clinton zum ersten Mal den Fluss. Es war nur ein kleines Flüsschen. Jedenfalls jetzt, in der Trockenzeit. Das Flussbett war mit faustgroßen Steinen bedeckt. Hin und wieder lag da auch ein größerer Felsbrocken. Dazwischen schlängelte sich ein Rinnsal hindurch, murmelte fröhlich, hüpfte über flache Stufen, schäumte zuweilen ein klein wenig und verschwand hinter einer Biegung, wo ein hoher Prallhang aus lehmiger Erde darauf wartete weiter ausgewaschen zu werden.

Am jenseitigen Flussufer stieg das Gelände flach an. Als der Wagen in einen Seitenweg einbog, musste Clinton gegen die tief stehende Sonne blinzeln. Nach einigen Augenblicken entdeckte er oben am Hang die Holzhütten mit den Grasdächern, die sich zwischen die Büsche duckten.

Der Wagen fuhr noch die wenigen Meter bis zum Ufer hinab, dann sprangen die Männer auf den knirschenden Kies. Ein Soldat war mit seinem Gewehr an der Brücke stehengeblieben. Die anderen entkleideten sich rasch und planschten in das kalte, klare Wasser. An der Flussbiegung gab es eine tiefere Stelle, die sich gut zum Baden eignete.

Es war wirklich schön hier. Hunderte Sonnenblumen säumten das Ufer. Zwei dunkelrote Vögel flatterten über den Köpfen der Männer und ließen ihre kehligen Laute ertönen. Clinton durfte frei herumlaufen. Natürlich stürzte auch er sich sogleich in das erfrischende Nass.

Aber dann rief ihn der Bürstenhaarige zu sich. Auf der Brücke waren zwei Indiofrauen erschienen. Sie blickten mit finsterer Miene auf die nackten Männer, auf die grauen Schlieren im Wasser und die Schaumkronen, die die Seife der Soldaten hervorbrachte. Clinton bekam seine Aufgabe zugeteilt. Er sollte die Indios verscheuchen.

Widerwillig tat er, wie ihm geheißen. Er stürzte knurrend auf die beiden Frauen zu und stoppte erst kurz vor ihren Füßen. Wahrscheinlich hatte er sie schon einmal gesehen, doch da war er sich jetzt nicht sicher. Jedenfalls bekamen sie einen solchen Schreck, dass sie schreiend hinauf ins Dorf rannten.

Clinton war das Ganze irgendwie peinlich. "Nehmt es nicht persönlich!" hätte er ihnen zurufen mögen, "ich tue doch nur meine Pflicht."

In den folgenden Wochen fuhren die Soldaten immer öfter zum Baden, alle zwei oder drei Tage. Jedes Mal nahmen sie Clinton mit. Manchmal begegneten sie nicht einem einzigen fremden Menschen. Das waren die schönsten Ausflüge. Clinton durfte im Wasser herumtollen, nach Libellen schnappen, durch die Wiesen jagen, wieder in den Fluss springen und sich zum Schluss in der warmen Sonne das Fell trocknen lassen.

Manchmal unternahm Clinton, während die Männer badeten, kleine Streifzüge. Besonders interessant war die Milpa, in der sich riesige Kröten versteckten, so groß wie Clintons Futternapf. Doch viel aufregender als die Kröten waren die Spuren der Menschen. Clintons feine Nase spürte auf, welche Pfade durch das Feld die Indios in den letzten Tagen genommen hatten, und er folgte ihnen.

Einmal stieß Clinton auf eine ganz frische Spur. Er wollte sich gerade wundern, da stand er auch schon dem Mann gegenüber, der mit einem Eisendorn die trockenen Hüllen der Maiskolben aufschlitzte, um die Kolben herauszubrechen. Der Indio, es war ein kleiner Mensch unbestimmten Alters mit einem Tuch gegen die Sonne unter der Schirmmütze, begrüßte den Eindringling mit zornig verzogenem Gesicht und einem Fluch. Er griff nach seiner Machete.

Die Milpa ist den Indios heilig seit Alters her. Man darf sie nur ehrfurchtsvoll, andächtig und, wenn möglich, mit einem Gebet auf den Lippen betreten. Fremde habe in der Milpa überhaupt nichts zu suchen, es sei denn, sie werden vom Bauern eingeladen. Clinton hätte das wissen müssen. Da er sich in der Schuld des Bauern fühlte, verzichtete er darauf zu bellen und lief auf dem kürzesten Wege zum Fluss zurück.

Clintons Aufgabe auf den Badeausflügen blieb die alte. Näherte sich ein Indio auf dem Weg oder in der Wiese am Hang, wo meistens ein kurzbeiniges Pferd weidete, dann war der Hund gefordert. Indios mussten verbellt werden. So war das nun einmal. Jedenfalls dort, wo Soldaten waren. Clinton gehörte schließlich zu ihnen, obwohl er sich das nicht ausgesucht hatte. Er tat seine Pflicht mit Widerwillen. Niemals kam ihn der Gedanke, er könnte den Befehl verweigern. Niemals bis zu dem Tag, an dem sich sein Schicksal entscheiden sollte.

Der Tag begann wie alle anderen. Es war ein Sonntag. Die Soldaten brauchten am Morgen nicht anzutreten und der Feldgottesdienst wurde schlecht besucht wie immer. Schon fast Mittag war es, als ungefähr zehn Männer mit Clinton zum Fluss aufbrachen. Die Sonne brannte. Kein Wölkchen am tiefblauen Himmel. Kein Windhauch. Stille in den Hügeln, bis der schwere Dieselmotor den Weg hinauftuckerte.

An der Milpa sprang Clinton vom Wagen und rannte voraus. Das tat er in letzter Zeit öfter. Er konnte es nicht mehr erwarten, in das kühlende Wasser zu platschen, das jetzt, mit fortschreitender Trockenzeit, immer spärlicher floss.

Mitten auf der Brücke erstarrte Clinton. Unten am Fluss bot sich ihm ein erstaunliches Bild. Auf den größeren Steinen lagen bunte Wäschestücke ausgebreitet. Zwei Mädchen standen bis zu den Knien im Wasser und wuschen. Clinton erkannte sie sofort. Es waren Rosalinda und ihre kleine Schwester Mia. Als die Kleine den Hund erblickte und gleich darauf den Wagen mit den Soldaten, raffte sie ein paar Wäschestücke zusammen und rannte los. Hinauf zum Dorf.

Rosalinda hatte sich aufgerichtet. Sie lächelte etwas unsicher. Clinton versuchte in ihren Augen zu lesen. Ein wenig Angst war da schon. Aber nicht viel. Es überwog Vertrauen. Vertrauen, wie man es guten Bekannten entgegenbringt. Und waren sie nicht gute Bekannte?

Clinton ging vorsichtig drei Schritte auf das Mädchen zu. Rosalinda rührte sich nicht von der Stelle. Ihre Augen schienen noch größer zu werden. Eine Bitte tauchte in ihnen auf, aber Clinton konnte sie nicht entziffern. Plötzlich erschien ein trotziger Zug um ihren Mund. So ein grimmiges Lächeln, wie es Mateo manchmal zeigte. Als seien Clinton und die Soldaten gar nicht da, beugte sie sich wieder über ihre Arbeit, griff nach dem Hemd, schrubbelte den Kragen, bis er sauber war.

Inzwischen waren die Soldaten nähergekommen. Sie saßen ab.

Da kam auch schon der Befehl: "Vertreib sie!"

Clinton machte aus purer Gewohnheit einen Satz nach vorn. Das Gehorchen war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er rannte auf Rosalinda zu, ins Wasser hinein. Nur das Bellen vergaß er, wie er es immer vergaß, wenn er sie sah. Dicht vor ihren dünnen, braunen Beinen blieb er stehen. Fast hätte er sie berührt.

Rosalinda schien das Geschehen um sie herum nicht wahrzunehmen. Jetzt wrang sie das Hemd aus. Das herabrieselnde Wasser bespritzte Clinton. Es war, als streichelte sie ihn.

In diesen Sekunden wusste Clinton, was nun kommen würde. Und richtig, da kam er auch schon, der Ruf des Bürstenhaarigen.

"Beiß sie ins Bein! Los, beiß sie!"

Es traf Clinton wie ein Schlag mit dem Riemen. Seine Knie wurden weich. Langsam hob er den Kopf. Da waren sie wieder, Rosalindas große, bittende Augen! Nein, das konnte er nicht! Das würde er niemals fertigbringen, Rosalinda etwas anzutun.

"Los, Clinton! Beiß!"

Wie hätte er das tun können! Und wie es lassen? Es gab kein Vorwärts und kein Zurück mehr. Rosalindas Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Das Flüsschen schien zum reißenden Strom anzuschwellen und ihn mitzureißen.

"Clinton!"

Die scharfe, schneidende Stimme des Soldaten riss ihn endgültig von den Beinen. Als sein Kopf untertauchte, waren es plötzlich seine Beine, jene Beine, die eben noch den Dienst versagt hatten, die nun auf einmal wussten, wozu sie da waren. Sie wussten es besser als Clintons Verstand. Sie rissen ihn empor, trugen ihn davon, pfeilschnell, kaum den Boden berührend, heraus aus dem Fluss, hinein in den Busch mit den harten, herzförmigen Blättern, durch das ganze Gebüsch hindurch, vorbei an den Sonnenblumen, hinein in die Milpa.

Clinton rannte weiter, so weit ihn seine Beine trugen. Durch Milpas und Wälder, über trockene Wiesen und Moore und wieder durch Milpas. Erst als die Bäume lange Schatten warfen, sank er erschöpft ins Gras.

Was hatte er getan! Ungehorsam, Befehlsverweigerung! Das Schlimmste, das ein Soldat tun konnte, so hatte man es ihm beigebracht. Aber war es denn etwas Schlechtes, das Mädchen nicht zu beißen? Warum nur? Clinton würde das nie verstehen. Und weil er es nie verstehen würde, gab es für ihn kein Zurück mehr. Er fürchtete nicht die Strafe, die unvermeidlichen Hiebe. Nein, das war es nicht. Je länger er nachdachte, desto klarer wurde ihm bewusst: Er könnte nie wieder dazugehören zu jenen, die auf Befehl, ohne nach dem Sinn zu fragen, anderen Leid zufügen. Nur weil sie die Stärkeren sind. Sind sie wirklich die Stärkeren? Waren nicht in Wirklichkeit Rosalindas Augen viel stärker?

Zurück zu den Soldaten konnte er nicht mehr. Er war davongelaufen, ein für allemal, endgültig. Aber wohin jetzt? Wohin? Clinton schleppte sich bis zu einem kleinen Bächlein und trank, bis sein Leib zu bersten drohte. Die Sonne hatte sich schon im Wald versteckt, die Kröten krächzten und die Sonnenblumen ließen ihre Köpfe hängen. Clinton schlief ein.

Am Morgen erwachte er mit der selben Frage Kopf: Wohin? Wohin sollte er gehen? Wohin gehörte er nun? Zum Militär keinesfalls. Wen kannte er sonst auf dieser Welt? Wer würde ihn aufnehmen, ihn, den Kläffer der Soldaten? Wer würde gut zu ihm sein? Es gab nur eine Antwort: die Indios!

Clinton trank von dem kalten Wasser des Baches und sah eine Weile den Libellen zu. Der Morgennebel hatte sich längst verzogen, klar und rein strahlte die Sonne. Sie wärmte Clintons dunkles Rückenfell. Er erklomm einen kleinen Hügel. Hier dufteten die Kiefern nach Harz. Aus dem Tal des Bächleins stieg Dampf auf. Zwei Pilotvögel neckten sich mit glucksenden Lauten. Ohne Eile machte sich Clinton auf den Weg. Er trottete die gleiche Strecke zurück, die er gestern gekommen war. Über Wiesen und Moore. Nun hatte er Zeit, viel Zeit. Hin und wieder blieb er stehen, blickte sich um, folgte mit den Augen dem Kamm der Kordillere, setzte sich einfach still ins Gras und wartete, ob etwas geschähe.

Und es geschah immer etwas. Ameisen trugen hastig Blätterschnipsel vorbei. Rostrote und tiefblaue Schmetterlinge tanzten über den Blüten. Eidechsen lugten zwischen den Steinen hervor. Einmal strich etwas Graubraunes, Langes dicht neben Clinton durch das Gras. Er spang erschrocken zur Seite. Doch die Klapperschlange interessierte sich überhaupt nicht für ihn. Gemächlich zog sie ihres Weges.

Das erste Mal in seinem Leben hatte Clinton keinen Herrn. Ein eigenartiges Gefühl war das. Einfach schön. Er konnte gehen und verweilen, wie es ihm beliebte. Niemand machte ihm Vorschriften. Keine Pflicht band ihn mehr. Clinton genoss das. Manchmal kribbelte aber schon eine kleine Unruhe in seinem Bauch. Nichts gab es nun mehr, woran er sich halten konnte. Niemand sagte ihm, was gut und was schlecht war. Durfte ein Hund denn so leben, einzeln und frei?

Bis zum Abend war Clinton noch nicht weit gekommen. Unter einem Besenstrauch verbrachte er die Nacht.

Am nächsten Morgen bemerkte er, dass noch etwas ganz anderes in seinem Magen zwickte. Er hatte unglaublichen Hunger. Wo sollte er nur etwas zu fressen herbekommen? Da erinnerte er sich an seine heimlichsten Träume. Hatte er nicht immer schon ein Jäger sein wollen? Einer, der die Beute hetzte, der schließlich schneller war, zuschnappte und seine Zähne in das blutwarme Fleisch schlug. Er hatte noch niemals die Gelegenheit gehabt es zu probieren. Aber auf seine Nase war Verlass. Sie wies ihm sicher den Weg zu warmblütigen Tieren, die es zu jagen lohnte.

Schnell fand Clinton eine Spur, die ihn in Aufregung versetzte. Das Tier musste ziemlich nahe sein. Und da sah er es auch schon. Es war ein Gürteltier, das in einem ausgefaulten Baumstumpf wühlte und dabei schmatzende Laute ausstieß.

Clinton wollte sich anschleichen, aber das Gürteltier hatte ihn schon entdeckt. Es versuchte zu fliehen, jedoch kam es nicht weit. Mit ein paar Sätzen war Clinton heran. Das Gürteltier rollte sich blitzschnell zusammen. Die knochenharten, glatten Ringe seines Rückenpanzers bildeten eine Kugel, die den Körper schützend umschloss. Clinton versuchte zuzubeißen, doch er rutschte immer wieder ab.

Mürrisch saß Clinton neben der ledrigen Kugel, die nicht zu fassen war. Er war ein schlechter Gürteltierjäger. Er versuchte nicht einmal die Kugel umzudrehen, um ihrer von der Bauchseite her beizukommen. Clinton wartete nur. So wurde das nichts. Das Gürteltier hatte mehr Geduld. Schließlich ließ er von ihm ab und trottete weiter.

Der hungrige Hund lief nun ohne Pause. Er hoffte in der Nähe der Indio-Siedlung eher etwas zu finden. Am Nachmittag erreichte er die Brücke am Fluss. Er trank sich noch einmal satt. Das betäubte auch den Hunger ein wenig. Dann schlich er im hohen Gras vorsichtig den Hang hinauf.

Zuerst stieß er auf eine Latrine. Daneben fand er eine Abfallgrube. Aus dem Abfall des Militärcamps hatte er manchmal einen leckeren Knochen gewühlt. Aber diese Grube hier erwies sich als völlig unergiebig. Die Indios warfen nichts Genießbares weg.

Ein Stück weiter quoll dicker Rauch aus einer Hütte, die aus dünnen Latten zusammengenagelt war. Vor dem offenen Herdfeuer hockte eine kleine Gestalt. Clinton kannte den Mann. Es war der alte Martín. Er hatte sein einziges, blaues Hemd an. Martín hustete. Immer hustete Martín, bei jedem Wetter. Jetzt, im Rauch seiner Küche, hustete er besonders stark.

Martín war ein freundlicher Mann. Clinton wusste das. Er näherte sich ohne sich weiter zu verstecken. Der Mann beachtete ihn nicht. Clinton strich um die Wohnhütte herum, die dicht neben der Küche stand. Sie war aus runden Pfosten und rohen Brettern zusammengefügt. Zwischen dem letzten Brett und dem Boden klaffte eine breite Lücke. Der Spalt war leider etwas zu schmal für Clintons Kopf, nur seine Nase passte hindurch. Mit der Nase erkundete er das Innere der Hütte. Es roch nach Martíns Sachen und nach Mais. Der alte Mann lebte allein, allein mit seinem Mais.

Plötzlich war da noch ein anderer Geruch, der Clinton in höchste Erregung versetzte. "Beute!" war sein erster Gedanke. Ein junges, fast schwarzes Hühnchen zwängte sich unter dem untersten Brett hervor und lief gackernd davon.

Am nächsten Morgen näherte sich Clinton Martíns Anwesen auf dem selben Wege wie am Vortage. Jetzt kannte er sich hier schon aus. Links um die Küche herum führte der Trampelpfad zum Hühnerstall. Martín war nicht zu Hause. Clinton hatte ihn weggehen sehen. Wahrscheinlich zu seiner Milpa. Martín durfte ihn hier nicht sehen. Denn Clinton kam als Räuber. Gestern hatte er dem Hunger nicht widerstehen können. Ohne große Mühe hatte er eines der kleinen, dummen Hühner geschnappt, war mit seiner Beute den Hang hinuntergelaufen und hatte das dürre Vögelchen hastig zerfetzt und verschlungen. Es war so wenig dran an dem mageren Huhn, dass er nicht einmal richtig satt wurde.

Nun knurrte sein Magen schon wieder. Gleichzeitig hatte er schreckliche Gewissensbisse. Wie konnte er nur dem armen Martín seine Hühner stehlen! Nein, es musste bei dem einen Huhn von gestern bleiben. Wieso schlich er dann zum Hühnerstall? Er wollte doch nicht schon wieder ...

Da entdeckte Clinton neben der Tür zu Martíns Hütte etwas höchst Eigenartiges. Ein Futternapf, ein richtiger Futternapf wie im Lager! Darin klebte ein Klumpen Reis. Fütterte Martín seine Hühner jetzt hier vor der Hütte? Warum hatten sie den Reis nicht aufgefressen? Clinton schaute nach den Hühnern. Nur so, interessehalber. Doch der Hühnerstall war leer.

Die sechs Hühnchen zu finden war für Clintons Nase kein Problem. Gleich neben der Küche begann der Gemüsegarten. Er war nicht groß, vielleicht zehn Schritte lang und sechs Schritte breit. Der Staketenzaun schien ziemlich neu zu sein. Hier hatte Martín die Hühner eingesperrt. Die Zuckererbsen waren gerade abgeerntet. In den Resten scharrten und pickten die Hühnchen. Etwas anderes Grünes gab es im Moment nicht in diesem Garten. Das Federvieh war jedenfalls sicher verwahrt.

Und für wen stand dort am Haus der Futternapf? Clinton legte sich hinter der Küche auf die Lauer. Von hier aus hatte er den Napf im Blick ohne selbst aufzufallen. Er wartete. Die Sonne stieg am blauen Himmel empor. Kurz vor Mittag kam Martín. Er trug einen schweren Sack, brachte ihn ins Haus und trat wieder vor die Tür. Sein Blick fiel auf den noch immer vollen Futternapf. Er schüttelte den Kopf. Dann trat er an den Gartenzaun heran und überzeugte sich, dass mit seinen Hühnern alles in Ordnung war. Der Mann schielte aus dem Augenwinkel zur Küche herüber. Clinton duckte sich. Doch er war sicher, Martín hatte ihn gesehen. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Alten. Dann ging er fort.

Der Futternapf stand noch immer vor der Hütte. Clinton schnupperte noch einmal an dem Reis, den die Sonne inzwischen festgetrocknet hatte. Der Alte hatte ihn also gesehen, ihn, den Hühnerdieb, und er hatte nicht nach einem Knüppel oder einem Stein gegriffen. Sogar ein wenig gelächelt hatte er. Das war zwar nicht zu verstehen nach alldem, was er, Clinton, dem alten, armen Mann angetan hatte. Ein Huhn musste für ihn, der nicht einmal Samen für seinen Garten kaufen konnte, ein großer Wert sein. Doch es gab nur den einen Schluss: Der Futternapf stand da für niemand anderes als ihn, den so gemeinen Hund.

Clinton blickte sich noch einmal um. Kein Mensch war zu sehen. Da entschloss er sich den Reis zu fressen.

Von diesem Tag an fand Clinton jeden Morgen etwas Reis oder schwarze Bohnen in der Futterschüssel, die er nun als seine betrachtete. Wenn Martín nach getaner Arbeit und nach der Dorfversammlung am Abend im hellen Mondlicht vor seiner Hütte saß, dann legte sich Clinton nicht weit von ihm entfernt ins Gras. So nahe, dass der Alte ihn bemerken musste. Martín schien froh zu sein, dass er nicht mehr ganz allein war. Aber er zeigte dem Hund auch deutlich: Allzu viel Vertraulichkeit wünschte er nicht. Niemals berührte er Clinton. Nur ganz selten schaute er seinem Pflegling in die Augen. Und auch in diesen wenigen Augenblicken war es nicht wie damals mit Agostino. Immer bestand ein unüberwindbarer Abstand, niemals würden sie wirkliche Freunde werden. Vielleicht lag das an dem gestohlenen Huhn.

Tagsüber streifte Clinton durch das Dorf. Schon nach wenigen Tagen achteten die Indios überhaupt nicht mehr auf ihn. Nur manchmal, wenn er den Hauptweg entlanglief, wechselte eine Frau auf die andere Seite. Die Kinder freuten sich, wenn er mit ihnen zum Fluss lief um zu baden.

Die Hütten der Siedlung lagen verstreut im weiten Tal. Im Süden, von wo der Fluss kam, reichte dichter Wald bis an das Dorf heran. Dort, wo das Flüsschen sich als kleiner Wasserfall aus dem felsigen Hang in die sanft gewellte Niederung ergoss, war die Wasserstelle. Ständig kamen Frauen und Kinder, um mit ihren zweihenkeligen Krügen oder Plastkanistern das klare, frische Wasser aus dem Wasserauge zu schöpfen. Schmale Pfade schlängelten sich in den Wald hinein. Sie führten zu kleinen, versteckt liegenden Milpas.

Auf der gegenüberliegenden Talseite, wo die Hänge der Mittagssonne zugewandt waren, gab es nur verdorrtes Gras und nackte, rote, harte Erde. Nur ein paar krüppelige Kiefern krönten die sonst kahlen Hügel. Auf dieser Talseite lagen keine Felder. Dort konnte man dem verwüsteten Boden keine Früchte mehr abringen.

Gleich am Dorfeingang, ganz in der Nähe der Brücke, wo die Soldaten immer badeten, war die Grundschule eingerichtet. Hier musste einmal ein Gutshof oder etwas Ähnliches gewesen sein. Von den meisten Gebäuden existierten nur noch Reste der Grundmauern. Nur ein arg ramponiertes Haus mit bröckeligen blauen Säulen davor war noch nutzbar. Darin befanden sich zwei Klassenräume. Zwei weitere Klassen wurden unter einem provisorisch angebrachten Vordach unterrichtet. Jede Klasse hatte einen eigenen Lehrer. Das waren Leute, die jeden Tag aus dem Dorf hinter dem Armeecamp heraufkamen. Clinton kannte sie.

Hinter dem Schulgebäude waren drei kleine Hütten für die Vorschulgruppen aus rohen Latten errichtet. Durch die Ritzen konnte Clinton hineinsehen. Er saß oft dort und lauschte den einfachen melodischen Liedern der Kinder.

Die einzelnen Familien wohnten in einer gewissen Entfernung zueinander. So blieb zwischen den Gehöften viel Raum für Gemüsegärten. Die meisten Familien besaßen ein fensterloses Haus zum Schlafen und dicht daneben eine luftig gebaute Küchenhütte, in der das offene Kochfeuer brannte. Etwas abseits standen die kleinen Latrinenhäuschen. Manche Familien hatten sich außerdem noch Lagerschuppen für den Mais und Hühnerställe gebaut. Clinton fand auch einige überdachte Backöfen aus Lehm und Feldsteinen und einige ganz ähnlich aussehende runde Konstruktionen, in die Teile von Zinkwannen eingebaut waren. Lange rätselte Clinton, wozu sie dienen mögen. Eines Tages beobachtete er, wie Großmutter Maria unter einer Blechwanne in dieser komischen Hütte ein Feuer machte. Der Raum füllte sich mit heißem Dampf und vergnügt schlüpften Rosalinda, Mia und ihre Brüder nacheinander in das Dampfbad.

Das Gehöft, das der Schule am nächsten lag, bewohnte eine arme Familie mit zehn stets lustigen Kindern. Die Kleinen spielten häufig mit Clinton. Sie warfen Stöckchen und freuten sich, wenn der Hund in hohen Sprüngen durch das hohe Gras hetzte und sie zurückbrachte.

An einem Morgen, als alle noch schliefen und nur Clinton schon umherstreifte, stand die Tür ihrer Wohnhütte einen Spalt weit offen. Clinton konnte ins Innere des Hauses schauen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er zuerst die wenigen bunten Sachen, die auf Schnüren aufgereiht an den Wänden hingen. Das einzige Mobiliar des Raumes war eine Bretterplattform, die als Bett diente. Dort schliefen die Erwachsenen, ohne Matraze, nur in verschlissene Decken gehüllt. Die Kinder lagen dicht aneinandergekuschelt auf dem Fußboden aus gestampftem Lehm. Sie sahen jetzt gar nicht fröhlich aus. Sie froren. Immer wieder hustete einer der Jungen.

Überall im Dorf wurde gebaut. Die Siedlung bestand noch nicht lange, nicht einmal zwei Jahre. Woher die Indios gekommen waren, wusste Clinton nicht. Er hörte nur immer wieder, sie seien Vertriebene.

Die Familien bauten ihre Häuser selbst. Vieles war noch unfertig. Manche begannen neben ihrer ersten Hütte ein größeres Haus zu errichten. Stapel von Brettern und Balken schienen im Augenblick das Wertvollste zu sein, das die Indios besaßen. Frauen wie Männer sägten und hämmerten. Nur am größten Gebäude der Siedlung arbeiteten immer Männer aus verschiedenen Familien gemeinsam. Das sollte einmal die Kirche werden. Es war eine große Halle mit flachem Blechdach, in der alle Dorfbewohner Platz haben sollten. Das Dach war schon fertig und auch an den Außenwänden waren die Bretter größtenteils angenagelt. So konnte man die Kirche bereits nutzen.

Die Kirche war das wichtigste Haus des Ortes, denn hier trafen sich jeden Abend die Bewohner zur Dorfversammlung. Hier besprachen sie die Arbeit auf den Gemeinschaftsfeldern für den nächsten Tag. Sie organisierten Hilfe für in Not Geratene. Sie entschieden, ob neue Siedler in die Gemeinschaft aufgenommen werden sollten. Clinton saß oft an der Seitenpforte, denn hier konnte er die meisten Dorfbewohner in Ruhe betrachten.

Er suchte einen richtigen Freund. Einen Menschen, der ihn niemals im Stich lassen würde. Das war ein schwieriges Unterfangen. Wenn sich Clinton jemanden aussuchte, würde er, der Hund, dann auch als Freund angenommen werden? Er musste es versuchen. Clinton beschloss, bei der Suche nach einem Freund sehr wählerisch zu sein.

Am meisten imponierte ihm Mateo. Mateo war stark und klug. Jeden Tag sprach er auf der Versammlung. Er redete lange und alle hörten ihm geduldig zu. Zu jeder Sache hatte er etwas zu sagen. Die Ausstattung der Medizin-Hütte und die Ausbildung der Gesundheitshelfer, die Reparatur des Lastwagens, der allen gemeinsam gehörte und schon zwei Monate kaputt herumstand, der Bau der Stromleitung von der Trafostation bis zur Kirche, der beste Zeitpunkt für den Verkauf der Kaffee-Ernte, die Vorbereitung des nächsten Festes mit Harfenmusik und Tanz - von allen diesen Sachen verstand Mateo etwas. Über all dies sprach er, wobei er seine Worte mit weit ausladenden Handbewegungen unterstrich. Immer unterbreitete er am Ende seiner Rede einen Vorschlag und die anderen stimmten ihm meistens zu. Mateo war eine Autorität. Alle mochten ihn, weil auf Mateo immer Verlass war. Er hatte nur einen Fehler: Er trug Stiefel. Und Stiefelträgern wollte Clinton nie wieder vertrauen.

Clinton teilte die Männer und Jungen ein in Stiefelträger und Barfußgeher. Er wusste, dass das irgendwie unvernünftig war. Der Barfußgeher Martín hatte sich als guter Mensch erwiesen und der Stiefelträger Mateo ebenso. Außerdem gab es da noch eine dritte Kategorie. Diese Leute gingen meist barfuß, doch wenn sie das Dorf verließen, trugen sie Schuhe. Irgendwelche alten Lederschuhe, aber keine Militärstiefel.

Zu ihnen zählte Tomás, ein Mann, der immer ein frisch gewaschenes Hemd und einen sauber gebürsteten schwarzen Filzhut trug. Seinen Hosenriemen schloss eine goldglänzende, schwere Schnalle, und an seinen Fingern blitzten zwei schmale Ringe. Tomás war nicht arm. Alle seine Kinder, auch die ganz kleinen, besaßen Schuhe. Sein Haus war eines der größten im Dorf. Er arbeitete in der Stadt. Tomás war eine der wichtigsten Dorfautoritäten. Zumeist leitete er die Versammlungen. Nur wenn er nicht rechtzeitig von der Arbeit zurückkam, sprang Mateo ein.

Clinton hatte sich Tomás ein paarmal vorsichtig genähert. Doch der Mann hatte ihn jedesmal nur mit abweisenden Blicken bedacht. Wahrscheinlich mochte er keine Hunde.

Unter den Frauen und Mädchen gab es keine Stiefelträger. Die meisten liefen barfuß, auch wenn sie den weiten Weg zum Markt vor sich hatten. Wenn sie Schuhe besaßen, dann nur die ganz billige Sorte, solche, die aus bunter Plaste gegossen waren und nicht lange hielten. Sie benutzten diese Schuhe deshalb nur sonntags und zu besonderen Anlässen.

Eine Ausnahme war die stolze Petrona. Sie trug ihre rosa Plastschuhe jeden Tag. Petrona ging in die vierte Klasse der Grundschule. Immer wenn die Mädchen aus der Schule kamen, stolzierte sie einen halben Schritt vor den anderen. Den Kopf trug sie hoch erhoben, ihr langes, schwarzes Haar, das sie in einem lockeren Knoten trug, glänzte gepflegt. Prächtig leuchtete ihr blaues Schultertuch, das nie schmutzig wurde. Unter den Mädchen ihres Alters war sie zweifellos die Anführerin.

Petronas Mund konnte sprechen, auch wenn er nicht ein einziges Wort hervorbrachte. Ihre schönen Lippen nahmen so vielfältige Formen an, dass sie der Worte nicht bedurften. Schon von weitem sah man, wenn sie die Mundwinkel schnippisch oder herablassend heruntergezogen hatte, was sie häufig tat. Aber sie konnte auch plötzlich loslachen und ihr Lachen war das hellste, klarste und ansteckendste im ganzen Dorf.

Es war Petrona, die sich um Clinton bemühte. Sie rief ihn beim Namen. Den hatte sie wohl am Armeecamp aufgeschnappt. Clinton ließ sich von ihr den Kopf kraulen. Petrona konnte sehr zärtlich sein. Clinton leckte ihr die Hände. Er tollte mit ihr und den anderen Mädchen durch die Wiesen. Wenn Clinton dann plötzlich den Wunsch in sich spürte zum alten Martín zurückzukehren, rief ihn Petrona noch einmal zu sich. Er fühlte, sie wollte ihn für sich allein haben. Ein paar Tage lang gab sich Clinton alle Mühe der Hund der schönen, stolzen Petrona zu werden. Es gelang ihm nicht. Seine Zuneigung zu ihr reichte einfach nicht aus.

Viel lieber schaute er in das alte, gütige Gesicht der Großmutter Maria. Wenn Maria in ihrer Küche Tortillas buk und Clinton ihr dabei zusah, warf sie ihm Blicke zu, die so warm waren wie ihre frischen Maisfladen. Dabei huschte ein so feines Lächeln über ihr dunkles, ledriges Gesicht, wie es die vorlaute Petrona niemals fertigbrächte. Maria war für Clinton eine Frau zum Gernhaben. Doch sie ließ ihn nie näher an sich heran. Lief er auf sie zu, dann ging sie aus dem Wege. Jaulte er, so wandte sie sich unwirsch ab. Ihre Küche durfte er nicht betreten. Einmal rief sie sogar Mateo, damit er den Hund vertriebe. Dabei mochte sie ihn gewiss auch, ihre Blicke aus sicherer Entfernung zeigten es. Nur allzu große Nähe war ihr zuwider. Gerade die brauchte Clinton jedoch. Es war so ähnlich wie mit Martín. Vielleicht verhielten sich alle alten Leute so? An Maria war jedenfalls nicht heranzukommen.

Dass Clinton so oft Großmuter Maria begegnete, war kein Wunder. Denn seine Beine wussten längst, was sein Kopf sich noch nicht eingestehen wollte. Sie wussten längst, wen er eigentlich suchte. Immer wieder streifte er um jenes Gehöft, in dem Mateos Familie lebte, wo Maria den ganzen Tag in der Küche verbrachte. Immer öfter fand er sich am Abend an der Rückwand der Hütte, dort, wo ein Mädchen schlief, dessen Duft durch die Ritzen drang: Rosalinda.

Die Bretterwand war dünn, aber fest gefügt. Doch Clintons Nase ertastete den zarten Körper auf der harten Bettstatt. Dasselbe Bett, es bestand aus drei stabilen Bohlen, trug auch Rosalindas Schwestern Mia und Marguerita. Direkt an der Wand lag Rosalinda, eingehüllt in ihr blaubuntes Tuch. Ihr Atem ging ruhig. Clinton konnte ihm stundenlang zuhören und sich dabei ihre zierlichen Glieder, die schmalen Hände und das spitze, fein geschnittene Gesicht vorstellen. Er glaubte das Zittern ihrer warmen, glatten Haut in der Nase zu spüren. Clinton vergaß die Welt um sich, wenn er im Mondschein wenige Zentimeter von Rosalinda entfernt lag, nur durch eine unbedeutende Bretterwand von ihr getrennt.

Morgens verließ das Mädchen mit den ersten Sonnenstrahlen das Dorf, um zur Segundaria zu gehen. Clinton begleitete sie immer ein Stück. Nicht allzu weit, denn in die Nähe des Armeecamps traute er sich nicht. Rosalinda winkte ihm freundlich zu, wenn er angelaufen kam. Manchmal gab sie ihm einen freundschaftlichen Klaps, ein andermal streichelte sie ihn sogar. Doch das war immer eine unverbindliche Freundlichkeit, das Normalste auf der Welt zwischen guten Bekannten. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass daraus einmal jene tiefe Zuneigung werden könnte, nach der sich Clinton so sehr sehnte.

Am Nachmittag saß Clinton an der Brücke und wartete, bis das Mädchen endlich aus der Schule käme. Wenn sie ihn dort sitzen sah, warf sie ihm einen aufmunternden Blick zu.

"Na komm schon, du anhängliches Hündchen."

Mehr sagte sie nicht zu ihm. Später half sie Mutter und Großmutter in der Küche oder wusch die kleineren Geschwister. Clinton war immer dabei. Natürlich nahm sie seine Gegenwart wahr. Aber sie wandte sich nur sehr selten ihm zu. Dann trank er ihren Blick wie ein Lebenselixier. Doch sogleich schien er wieder Luft für sie zu sein. Bemerkte sie nicht, wie sehr er ihre Nähe brauchte? Wie konnte er ihr nur seine Liebe beweisen?

Die Gelegenheit kam schneller als erwartet. Wieder geschah es am Fluss. Die Sonne stand schon tief. Rosalinda beeilte sich, mit der Wäsche fertig zu werden. Plötzlich brauste ein Motor auf. Die Soldaten kamen! Clinton duckte sich unter den Busch mit den gelben Blüten und war gespannt, was nun geschehen würde.

An der Brücke sprang ein Soldat ab. Breitbeinig baute er sich inmitten des Weges auf. Der Wagen bog in den Seitenweg ein und rollte bis dicht an das Wasser heran. Die Klappe wurde heruntergelassen. Doch was war das? Ein großer, brauner, kurzhaariger Hund sprang vom Wagen. Das Armeecamp hatte also einen neuen Hund! Der Braune war bestimmt nicht von Rasse. Er sah mürrisch aus und zugleich ein bisschen dumm. Viel Zeit blieb Clinton nicht seinen Nachfolger zu betrachten. Es ging alles sehr schnell. Clinton kam es so vor, als hätte er das Ganze schon einmal erlebt. Der große Köter stürmte auf das Wasser zu. Er schaute sich noch einmal kurz zum Fahrzeug um. Von dort kam ein aufmunternder Pfiff. Sogleich würde sich die Bestie auf Rosalinda stürzen. Da gab es für Clinton kein Besinnen mehr. Er schnellte aus seinem Versteck. Mit ein paar Sätzen hatte er die Steine am Ufer erreicht. Ein heiserer Laut presste sich aus seiner Kehle. Er sprang ins flache Wasser, genau zwischen Rosalinda und das zähnefletschenden Ungeheuer.

Zähnefletschen konnte Clinton auch. Sehr gut sogar. Und knurren ebenfalls. Warum das den viel größeren Angreifer beeindruckte, ist kaum zu erklären. Clinton hatte keine Zeit seine Chancen abzuschätzen. Hätte er es getan, wäre er so schnell ihn seine Beine trügen davongelaufen. Doch jetzt war Nachdenken nicht angesagt. Vor ihm stand dieser ekelhafte Köter und hinter ihm seine geliebte Rosalinda.

Der andere Hund hatte verdutzt innegehalten. Hätte er das nicht getan, dann hätte er Clinton glatt umgerannt. In diesem Augenblick ertönten hinter dem Wagen Stimmen. Das waren nicht nur die Soldaten, die gerade dabei waren abzusitzen. Mateos kräftiger Bass übertönte alle und auch Tomás war dabei. Die Männer traten hinter dem Fahrzeug hervor. Es gab eine kurze Diskussion. Währenddessen standen sich die beiden Hunde wie versteinert gegenüber. Der Armeehund spürte wohl, dass es gleich einen neuen Befehl geben würde. Und richtig, er wurde zurückbeordert.

Mateo fasste seine Tochter bei der Hand, zerteilte mit der anderen die Büsche und verschwand mit Rosalinda in Richtung Hang. Tomás raffte die Wäsche zusammen und folgte ihnen eilig. Auch Clinton ergriff die Gelegenheit zu verschwinden.

Auf der Sonnenseite des Gebüsches fand er Rosalinda. Noch immer bleich vor Scheck, war sie ins Gras gesunken. Der Vater kniete neben ihr. Er strich ihr übers Haar und versuchte sie zu beruhigen. Auch Clinton zitterte noch an allen Gliedern. Er hatte alles für sie riskiert und er würde das jederzeit wieder tun, da war er ganz sicher.

"Rosalinda, ich habe dich so lieb", sagten seine Augen und sie blickte ihn an und verstand ihn.

Er lehnte behutsam seinen Kopf gegen ihre Brust. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.

"Clinton, mein lieber, guter Clinton!" schluchzte sie.

Von diesem Tag an war Clinton Rosalindas Freund und Beschützer. Er verließ den alten Martín und zog zu seiner Freundin. Sogar in die Hütte durfte er hinein. Abends kroch er zu ihr auf das Bett, schmiegte sich an sie und schloss die Augen. Es tat so gut sich gegenseitig zu wärmen.

Vor dem Einschlafen flüsterte Rosalinda lange mit ihrem Hund. Sie erzählte ihm, was sie am Tage Neues in der Schule gelernt hatte. Und was sie von den Reden der Männer und Frauen auf der Versammlung verstand.

Manchmal sprach sie von geheimnisvollen Männern und Frauen mit schwarzen Masken und Gewehren. Hoch oben in den Bergen sollten sie hausen, erzählte man. Rosalinda wusste es besser. Die meisten waren ganz normale Bauern. Nur manchmal gruben sie ihre Gewehre aus, streiften die Masken über und zogen für einige Tage los. Niemals würden sie besiegt werden. Die Armee machte Jagd auf sie, doch sie waren nicht zu fassen. So groß war die Kraft der geheimen Indiotruppen, dass sogar die Regierung mit ihnen verhandeln musste. Man verhandelte über die Rechte der Indios. Zum Beispiel gehörte das Wasser des Flusses ganz allein den Indios, die hier siedelten. Und das Land auch. Die Regierung wollte das nicht anerkennen. Da gab es noch einen reichen Herrn in der Stadt, der Ansprüche erhob. Für den setzte sich die Regierung ein. Für die Indios niemals.

"Die Reichen in den Städten hassen uns. Oder sie wollen uns einfach nicht sehen. Wir sollen verschwinden. Ins Nirgendwo."

Nur weil es die Kämpfer mit den schwarzen Masken gab, hätten die Leute bisher an diesem Ort bleiben können.

"Wir müssen stark sein", flüsterte Rosalinda.

Die Maskierten wollten nicht kämpfen. Viel lieber wären sie einfach nur Bauern gewesen. Aber was sollten sie tun, wenn man sie nicht in Frieden leben ließ? Rosalindas Vater hatte einmal eine einfache Antwort gegeben: "Dasein, wenn es nötig ist, und so wenig wie möglich Gewalt anwenden!"

Wenn sich Rosalinda zur Seite drehte und einschlief, schob Clinton vorsichtig seinen Körper über ihre nackten Füße, die unter der Decke hervorlugten. Er wärmte sie die ganze Nacht. Clinton stellte sich vor, das hülfe gegen die grauen Pusteln an ihren Fußgelenken.

In den folgenden Tagen bemerkte Clinton beunruhigende Veränderungen im Dorf. Die Wachen am Dorfeingang waren verdoppelt worden und sie nahmen ihren Dienst jetzt sehr ernst. Eine Kette wurde über den Weg gespannt. Unbekannte Autos wurden nicht mehr durchgelassen.

Die Versammlungen dauerten länger als sonst. An den Häusern wurde nicht weitergebaut. Ein Mann nahm sogar die Blechtafeln von seinem Vordach ab und verschwand mit ihnen im Wald. Der Nachbar Cristóbal lud jeden Morgen einen schweren Sack auf sein Fahrrad und schob in Richtung San Antonio, das Dorf hinter der Bergkette. Schließlich holte er sogar den großen Tontopf, der zum Kochen von Maisbrei diente, aus der Küche und brachte ihn weg. Aus Mateos Hütte war das Radio verschwunden. Das alles konnte nichts Gutes bedeuten.

Rosalinda versuchte sich gegenüber ihrem Freund Clinton nichts anmerken zu lassen. Es gelang ihr nicht. Sie drückte ihn eine Spur fester an sich als vordem und Clinton nahm das als bedrohliches Zeichen. Wenn sie seinen Kopf in ihre Hände nahm, schloss er nicht mehr die Augen. Er blickte Rosalinda fragend an. Schließlich rückte sie mit der Sprache heraus.

"Sie haben uns mit Räumung gedroht!" stieß sie hervor.

Clinton neigte den Kopf zur Seite, als verstünde er nicht recht.

"Wir sollen das Land mit dem Herrn aus der Stadt teilen. Die besten Stücke für ihn, die versteppten Hügel für uns, so denkt sich das die Regierung. Die Beamten wollen nicht länger mit Vater und den Vertretern der anderen Dörfer verhandeln. Jetzt drohen sie uns. Sie haben einen Vertrag vorgelegt, der uns Indios nur einen Teil unserer Felder lassen würde." Rosalinda verstummte für einen Augenblick.

"Frieden nennen das die Weißen, die auch nicht weißer sind als wir." Das Mädchen wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Seine Stimme zitterte.

"Bis Donnerstag hat unser Dorf Zeit den Vertrag zu unterschreiben. Aber das können wir doch nicht tun! Wir können uns doch nicht selbst aufgeben!" Rosalinda hatte ihre Stimme nun wieder im Griff.

"Wenn wir nicht unterschreiben, dann müssen wir mit Räumung rechnen. Das haben die Beamten gesagt. Dann kommen die Soldaten oder Polizisten oder die Weißen Garden der reichen Herren oder alle zusammen und vertreiben uns mit Gewalt. Dann ist alles, was wir uns aufgebaut haben, verloren."

Clinton begriff: Deshalb also brachten die Familien alles in Sicherheit, was sich forttragen ließ. Einige hatten Verwandte in den Nachbardörfern. Wahrscheinlich trugen sie ihre Habseligkeiten dorthin.

Nur eines verstand Clinton nicht: Warum unternahmen die Kämpfer in den Bergen nichts? Solche Gemeinheiten wie dieser Vertrag und die Räumungsdrohung, das waren doch genau die Sachen, gegen die sie kämpften. Konnten sie nicht helfen?

Rosalinda schien die Frage aus Clintons Augen zu lesen.

"Die Männer und Frauen mit den Masken können jetzt auch nicht viel für uns tun. Vielleicht könnten sie die Militärs ein oder zwei Tage aufhalten. Und dann? Dann würde die Armee Verstärkung heranholen. Die Indiotruppe müsste sich zurückziehen und unser Dorf wäre erst recht verloren. Nein, nein, das wäre ein sinnloser Kapf." Wie Rosalinda das sagte, wirkte sie sehr erwachsen.

Auch Clinton erfasste nun die Angst. Angst, dass das friedliche Leben voller Zärtlichkeit mit Rosalinda und den anderen bald ein jähes Ende finden könnte. Vielleicht schon am Donnerstag. Was konnte man nur tun?

"Morgen versucht Vater noch einmal in der Bezirkshauptstadt mit den Verantwortlichen zu reden." Ein klein wenig Hoffnung klang in ihrer Stimme. Und Vertrauen in Vater Mateo. Und auch ein bisschen Stolz. "Er nimmt mich mit in die Stadt."

Bei den letzten Worten durchfuhr Clinton noch eine Welle des Unwohlseins. "Wenn ihr nur nichts zustößt!" dachte er.

Am nächsten Morgen begleitete Clinton Rosalinda und Mateo bis zu der Wegegabelung, an der der Bus hielt. Auch ein paar Männer waren gekommen, um ihren Verhandlungsführer zu verabschieden. Rosalinda lächelte etwas gequält, als sie in den klapperigen Bus stieg. Sie winkte noch einmal aus dem glaslosen Fenster, bevor sie in einer Staubwolke verschwand. Clinton kehrte mit den schweigenden Männern ins Dorf zurück.

Sie kamen an der Schule vorbei. Kein fröhliches Lachen, keine lustigen Lieder. Nur wenige Kinder waren an diesem Morgen gekommen. Von Tag zu Tag kamen weniger.

"Es muss am Wetter liegen", sagte der kleine, dickliche Lehrer zu seinem Kollegen, "es ist kalt, die meisten Kinder haben Husten."

Der andere erwiderte nichts. Natürlich wussten sie beide, wie es in Wirklichkeit um das Dorf bestellt war. Die ernsten, traurigen Gesichter der Kinder sprachen Bände. Sie hatten jetzt an anderes zu denken als an Mathematik und Religion.

Vor Mateos Haus hatte sich der Rest der Familie versammelt. Maria prüfte die Schnüre an den Tragebändern. Alle, auch die kleinen Kinder, trugen Bündel auf dem Rücken. Die Mutter gab das Signal zum Abmarsch. Heute zogen die Frauen und Kinder der Familie zu einer Tante nach San Antonio. Dort hatten sie nicht einmal Platz in einer Hütte. Sie würden unter einer Plane schlafen müssen. Aber es war ein sicherer Ort.

Die Mutter winkte Clinton mitzukommen. Doch Clinton wollte nicht. Er würde hier auf Rosalinda und Mateo warten.

Mit einem unangenehmen Kribbeln im Bauch wartete Clinton den ganzen Tag. Als am Abend der Bus kam, stieg niemand aus. Was war geschehen? Warum kamen die beiden nicht zurück? Clinton fielen Mateos Stiefel ein. Ein Mann mit Stiefeln verschwand eben manchmal. Aber warum musste er Rosalinda mit in die Sache hineinziehen? Wo war sie jetzt? Wann würde sie zurückkommen?

Auch mit dem Morgenbus am Dienstag kamen weder Mateo noch Rosalinda. Clinton war verzweifelt. Was konnte er nur tun? Im Dorf umherzulaufen und zu warten hielt er nicht mehr aus. Die bepackten Frauen und Kinder, die einen letzten Blick auf ihre Hütten warfen und wegzogen, die traurigen und zugleich gespannten Gesichter der wenigen Leute, die noch blieben, das vertrocknete Erbsenbeet, um das sich nun niemand mehr kümmerte, all das war so unerträglich geworden. Die Angst um Rosalinda übertraf das alles noch. Clinton beschloss, nicht untätig herumzusitzen. Er wollte Wege erkunden. Wege vom Dorf in die Berge.

Clinton lief los. Fort aus dem Dorf, in den Wald hinein, an einem Maisfeld vorbei, durch einen stillen Wiesengrund, wieder über eine Hügelkette und weiter durch lichten Kiefernwald. Er verschnaufte und schaute sich um. Wie schön es hier war! Wie still und friedlich. Der Pfad hatte sich fast verloren. Die Duftspuren von Füchsen und anderen Tieren durchzogen das trockene Gras. Es gab noch so viele schöne Plätze in diesem Land. Mussten sich die Menschen unbedingt um das Fincaland streiten?

Clinton trabte weiter. Plötzlich tauchte vor ihm auf dem Pfad eine menschliche Gestalt auf. Der Hund sprang zur Seite und duckte sich ins hohe Gras. Die Frau kam näher. Es war eine alte, gebeugte Frau. Sie stützte sich auf einen Stock. Die Frau schaute nicht nach rechts und nicht nach links. Vielleicht hatte sie Clinton gar nicht bemerkt.

Der Pfad wand sich nun den Hang einer Bergkette hinauf. Hier roch es wieder mehr nach Mensch, aber auch nach Hund. Clinton schnupperte vorsichtig nach allen Seiten. An jeder unübersichtlichen Stelle hielt er an und schlich mit angespannten Sinnen um den nächsten Busch oder den Felsbrocken. Es dauerte nicht lange, da erblickte er ein Dach, das über den Hügel hinauslugte. Ein Grasdach wie im Dorf. Als Clinton näherkam, stellte er fest, dass da ein ziemlich großes Haus stand. Es war umgeben von kleinen, sorgfältig eingezäunten Feldern. Der Pfad führte direkt auf ein festes Tor zu. Dort endete er.

Bis zum Tor kam Clinton gar nicht. Hundegebell setzte ein. Hinter den Staketen erschien ein schwarzer Schäferhund. Ein schönes Tier, überhaupt nicht zum Fürchten. Doch der Schwarze machte Clinton unmissverständlich klar, er habe hier nichts zu suchen. Clinton zögerte einen Augenblick. Die Stimme des Wachhundes klang gar nicht aggressiv, eher freundschaftlich. Sicher konnte man gut mit ihm auskommen. Clinton hob eine Pfote, um ihn zu einem kleinen Spiel zu animieren. Doch der Schwarze reagierte nicht. Er wandte kurz den Kopf nach hinten. Dort huschte eine Gestalt mit einer schwarzen Wollmaske über dem Gesicht an der Hauswand entlang. Der Mann blieb kurz stehen. Als er sah, dass vor dem Tor nur ein fremder Hund stand, nahm er die Maske ab. Der Wachhund begann nun wieder etwas lauter zu bellen.

Hier war Clinton also unerwünscht. Sie werden ihre Gründe haben, dachte er. Die maskierten Kämpfer stören oder gar verunsichern wollte er nicht. Da fiel ihm ein, dass es schon ziemlich spät sein musste. Er durfte den Nachmittagsbus nicht verpassen. Clinton lief zum Dorf zurück.

Auf dem Weg zum Fluss kam ihm Rosalinda entgegen. Die beiden begrüßten sich stürmisch.

"Clinton, mein Liebster!"

Sie klammerten sich aneinander und wälzten sich im sonnenwarmen Gras. Sie hatten einander wieder. Nur das zählte. Zu erzählen, was geschehen war, blieb später noch Zeit.

Rosalinda und Clinton kamen an Martíns Hütte vorbei.

"Wo steckt Mateo?" wollte der Alte wissen.

Wie alle anderen im Dorf hatte auch er auf Mateos Mission gehofft.

"Sie haben ihn verhaftet. Direkt vor dem Rathaus. Mich wollten sie auch greifen, aber ich bin weggelaufen."

"Ein Missverständnis vielleicht. Ist es nicht möglich, dass er schon wieder frei ist? Es muss ein Missverständnis sein", versuchte Martín seinen Schreck zu verbergen.

"Nein, das war Absicht. Sie haben nach seinem Namen gefragt und als er ihn nannte, haben sie ihm Handschellen angelegt. Und freigelassen haben sie ihn auch noch nicht. Ich bin die ganze Nacht um die Polizeistation herumgeschlichen. Am Morgen ist ein Auto vom Hof gefahren. So ein großes Auto mit Gitterstäben vor den Fenstern. Da hat Vater herausgeschaut. Er hat mich gesehen und etwas gerufen, aber ich habe ihn nicht verstanden. Ich bin dem Auto hinterhergerannt. Es ist nicht weit gefahren. Nur ein paar Straßen. So konnte ich sehen, wie es in einer Einfahrt verschwand. Das Haus ist riesengroß und hat keine richtigen Fenster. Es ist das Bezirksgefängnis." Rosalinda hatte ihre Geschichte bestimmt schon sehr vielen Leuten erzählen müssen.

Spät in der Nacht brannte noch das Feuer in der Küche neben Mateos Haus. Rosalinda hatte Tortillas gebacken. Sie saß auf dem kleinen Bänkchen, das der Vater für sie zusammengenagelt hatte. Clinton wärmte ihre Füße. Neben der Tür hockte ein Mann. Tomás. Der Feuerschein zeichnete tiefe Furchen in sein ernstes Gesicht.

"Übermorgen ist der Stichtag."

"Ja."

"Du musst dich in Sicherheit bringen!" sagte Tomás mit beschwörender Stimme.

Clinton schmiegte sich noch enger an Rosalindas Beine. Das Mädchen legte ein Holzscheit nach.

"Ich weiß selber, was ich tun muss." Ihre Stimme klang fest.

"Sei doch vernünftig!"

"Ich bin vernünftig. Wenn ihr alle in Panik geratet, muss wenigstens ich meinen Mut zusammennehmen."

"Das hat doch nichts mit Mut zu tun, das ist einfach waghalsig."

"Mein Platz ist hier. Basta!" Es klang, als sei Rosalindas Entscheidung, unter allen Umständen im Dorf zu bleiben, endgültig. Nur Clinton vernahm das leise Zittern in ihrer Stimme. Sie schluckte und er verstand: Rosalinda versuchte ihre Furcht hinunterzuwürgen.

Tomás gab nicht auf.

"Deine Mutter und deine Großmutter sind tapfere Frauen. Sie haben vor niemandem Angst, auch nicht vor den Soldaten. Aber sie haben Vernunft bewiesen und sind nach San Antonio gegangen. Vorläufig."

"Eben darum muss ich hierbleiben", erwiderte Rosalinda trotzig. "Mutter muss sich um das Baby und die anderen Kleinen kümmern. Großmutter ist alt. Sie kann nicht mehr so schnell laufen. Da ist es wirklich besser, sie geht rechtzeitig fort. Vater ist auch nicht da, er ist im Gefängnis. Ich bin seine älteste Tochter. Also bin ich jetzt für das Haus verantwortlich."

Clinton war stolz auf seine Rosalinda. Hatte sie nicht recht? Sie und er - hatten sie nicht hier ihre Aufgabe?

Aber Tomás ließ nicht locker.

"Ab übermorgen kann hier die Hölle los sein."

"Ab übermorgen - was heißt denn das? Donnerstag? Oder Freitag? Oder nächste Woche? Oder nächstes Jahr? Niemand weiß, ob sie die Drohung wahr machen werden."

"Natürlich weiß das niemand. Natürlich drohen sie öfter, als sie zuschlagen. Aber diesmal ist es, glaube ich, ernst. Warum hätten sie wohl sonst deinen Vater gerade jetzt verhaftet? Einfach so, ohne jeden Anlass?"

"Vater ist unser Wortführer."

"Er kennt Leute von verschiedenen Zeitungen. Wenn eine gewaltsame Räumung stattfände, wenn er dabei wäre und davonkäme, dann würde er die Gewalttaten in der Öffentlichkeit anprangern. Das fürchteten sie! Deshalb haben sie ihn eingesperrt. Ich glaube wirklich, dass sie es diesmal ernst meinen." Tomás fuchtelte mit den Händen und flüchtige Schatten huschten durch den kleinen Raum.

"Ich will aber nicht weggehen."

Clinton versuchte sich vorzustellen, was dem Dorf bevorstand.

Eine endlose Schlange grünbraun gefleckter Stahlkisten wälzt sich den Weg herauf, legt sich wie eine Schlinge um das ganze Dorf und erstarrt. Der Motorenlärm erstirbt. Eine schaurige Stille tritt ein. Ein Leuchtsignal steigt in den Nachthimmel. Metallisches Klicken überall.

"Wenn es losgeht, ist nicht sicher, ob du noch wegkommst."

Die Schlinge zieht sich zusammen. Soldaten mit Gewehren im Anschlag. Durch eine Gasse rumpeln drei Jeeps. Die Männer darauf tragen weiße Kapuzen, die die Gesichter verhüllen. Sie verschwinden zwischen den Hütten.

"Du weißt, ich habe schon eine Räumung miterlebt, vor zwei Jahren, als wir aus unserem alten Dorf vertrieben wurden."

"Und du bist heil weggekommen."

"Aber es gab zwei Tote. Jedesmal, wenn eine Indiosiedlung geräumt wird, gibt es Tote."

"Jedesmal?"

"Beinahe jedesmal."

"Auch kleine Mädchen?"

Tomás konnte sich nicht entschließen ihr zu erzählen, was die Guardias Blancas den Mädchen in seinem Dorf angetan hatten.

"Nnnein", quetschte er hervor.

Die Art, wie er das sagte, ließ Rosalinda erschaudern. Sie drehte ihr Gesicht in den Schatten.

Clinton hielt die Augen geschlossen. Aber er sah immer noch die an den Holzscheiten nagenden Flammen und die übergroßen, hektisch tanzenden Schatten im Dach. Und die Schatten von Lastwagen und Jeeps und Männern mit Kapuzen.

Da läuft das Feuer über das ausgedörrte Gras, springt an der Hütte empor, erreicht das Grasdach und schwingt sich in den Himmel.

"Wenn sie kommen, brennen sie alles nieder."

Eine Hütte nach der anderen lodert auf. Flammensäulen erhellen die Nacht. Prasselnd verbrennt der zurückgelassene Mais, der Tortillas für ein ganzes Jahr gegeben hätte. Zuerst bricht das Dach der Schule zusammen. In Todesangst stürzen sich die Hühner in ihren brennenden Stall. Als lebende Fackeln fliegen sie ein letztes Mal empor.

"Flieh, ehe es zu spät ist!"

Alle Hütten brennen, nur eine nicht: Rosalindas Küche. Rosalinda bäckt Tortillas. Das Herdfeuer scheint durch die Ritzen zwischen den Latten. So sehen die Männer Rosalindas zierliche Gestalt, unantastbar inmitten des Infernos, eine Heilige.

Ein Soldat bekommt einen Befehl. Sein Mund steht weit offen. Der Flammenschein beleuchtet den Schrecken in seinen Augen. Er reißt sich den Stahlhelm vom Kopf. Weglaufen möchte er. Aber er hat den Befehl. Seine Bürstenhaare sträuben sich. Er sinkt auf die Knie. Auf die Knie vor der Heiligen im Feuerschein. Anschlag. Entsichern. Zielen. Das Gesicht des Bürstenhaarigen verkrampft sich. Er hält das nicht aus. Er kann sie nicht ansehen, die erhabene Gestalt, vor Kimme und Korn. Er kneift auch das rechte Auge zu. Dann zieht er durch. Dauerfeuer.

Ein Schrei erfüllte die Hütte. Ein klagender Schrei. Ein Schrei der Angst aus Clintons Kehle. Rosalinda beugte sich zu ihm hinunter. Ihr Gesicht war seinem so ähnlich, als hätte sie die gleichen Bilder gesehen. Sie umarmte ihn. Ihr Atem ging schwer.

"Ist ja gut, mein Lieber. Wir werden gehen. Morgen gehen wir."


Zaghaft schob sich das erste Morgenlicht über die Hügelkette. Nebelschwaden stiegen aus den Wiesen empor. Das Feuer der Dorfwachen war niedergebrannt. Stille lag über dem Tal.

Fröstelnd setzte sich Rosalinda auf ihr fertig geschnürtes Bündel. Die Hütte hatte sie schon verschlossen. Clinton schmiegte sich an sie. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Finger spielten gedankenverloren mit seinen Ohren. Sie warteten.

Aus dem Nebel tauchte eine kleine Gestalt auf, gebeugt unter einer schweren Last. Als Martín näherkam, sprach er langsam und betont die Grußformel der Tzeltal.

"Was trägst du heute für ein Gesicht?"

"Danke, ich trage ein Gesicht", antwortete Rosalinda.

Clinton wedelte zur Begrüßung ein wenig mit dem Schwanz. Der alte Martín sollte Rosalinda begleiten, wenn sie das Dorf verließ. Martín gähnte. Er war vollkommen übermüdet, denn er hatte nun schon die zweite Nacht auf Wache gestanden. Freiwillig hatte er sich dazu gemeldet. Die jungen Leute, meinte er, sollten sich lieber um ihr Eigentum kümmern. Er selber besaß ja nicht viel. Das bisschen konnte er auf einmal wegtragen. Und so war er nun also gekommen. Abmarschbereit, ein sorgfältig zusammengezurrtes, schweres Bündel am Stirnband.

Rosalinda erhob sich, nahm ihr Bündel auf und hängte sich die Last mit dem Trageband über den Kopf. Martín half ihr dabei. Dann standen sie einen langen Augenblick stumm und ließen den Blick über das Dorf schweifen. Dieses Dorf, das zwei Jahre lang ihre ganze Hoffnung gewesen war. Hätte man sie nur in Ruhe gelassen, sie hätten hier ihr Glück in die eigenen Hände nehmen und sich einen bescheidenen Wohlstand schaffen können. Das Recht dazu hatten sie. Auf dem Papier. Doch nun lag die Zukunft wieder im Ungewissen.

Rosalinda riss sich aus ihren Gedanken los.

"Na los, Clinton, führe uns!"

Clinton rannte voraus. Zuerst den Hauptweg entlang. Doch an der Kirche hielt er inne. Was sollte denn das heißen - "führe uns"? War denn nicht klar, wohin sie gehen würden? Selbstverständlich doch zur Familie nach San Antonio. Oder?

Clinton wandte sich um und wartete auf die beiden. Sie hatten ihn nicht zurückgerufen. Also wollten sie nicht in die andere Richtung, nicht am Armeecamp vorbei, nicht in Richtung Stadt. Rosalinda und Martín kamen heran. Sie sagten nichts. Also lief Clinton weiter. Den Hauptweg entlang. Vorbei an dem Schuppen, in dem längst nicht mehr der klapperige Lastwagen stand. Eigentlich war er ja kaputt gewesen, aber irgendwie hatten sie ihn doch noch einmal in Gang gesetzt und weggefahren. Immer wieder schaute sich Clinton um, ob Rosalinda nicht etwas sagen oder ihm ein Zeichen geben würde. Aber Rosalinda sagte nichts.

Sie kamen an den Wachposten vorbei. Es waren zwei junge Burschen. Sie grüßten höflich den alten Martín, der ein angesehener Mann im Dorf war.

"Wohin geht ihr?" wollten sie wissen.

"Fort." Martín war nie sehr gesprächig.

Am Waldrand gabelte sich der Weg. Rechts ging es nach San Antonio. Und links ... .

Clinton blieb stehen, die beiden blieben auch stehen. Martín lächelte, als ahnte er, was nun geschehen würde. Clinton schaute fragend Rosalinda an und Rosalinda stieß einen kleinen Lacher aus.

"Na, was ist? Weißt du nicht weiter? Komm schon, führe uns den richtigen Weg!"

Welches aber war der richtige? Sollte wirklich er das entscheiden? Oder hatten sie längst entschieden? Das konnte doch nur bedeuten ... . Clinton blickte ein paarmal hin und her zwischen Rosalinda, deren erwartungsvolles Lächeln ihm nicht sagen wollte, was sie gerade dachte, und Martín, der ihm aufmunternd zunickte. Lange, viel zu lange schon stand er unschlüssig auf der Wegegabelung.

Mit einem Ruck straffte Clinton seinen Rücken und schlug den linken Weg ein, den Weg in die Berge, den er am Vortage begonnen hatte zu erkunden.


Nachwort


Wie geht die Geschichte aus? Wird das Dorf weiter bestehen? Werden die Indios wieder ihren Mais anbauen? Werden sie sich endlich eine sichere Heimat aufbauen können? Wird Rosalinda wieder zur Schule gehen, vielleicht später sogar studieren und Lehrerin werden, wie sie das immer wollte?

Ich weiß es nicht. Deshalb konnte ich die Geschichte nur so weit aufschreiben, wie ich sie selbst erlebt oder aus den Erzählungen der Beteiligten erfahren habe. Ein gutes oder ein schlimmes Ende dazuzuerfinden wäre anmaßend und unhöflich gewesen.

Die Namen der Personen habe ich verändert, damit sie keinen Ärger bekommen. Clinton heißt aber wirklich so.

Im Auftrage der Menschenrechtsorganisation Fray Bartolomé de Las Casas war ich Anfang Februar 1996 in Rosalindas Dorf gekommen. Es liegt im Süden Mexikos, im Bundesstaat Chiapas. Dort verbrachte ich einige schöne Tage unter großartigen Menschen. Bis dann die Räumungsdrohung bekannt wurde. Einen Tag vor dem Stichtag musste ich das Dorf verlassen. Von dem, was danach geschah, habe ich folgendes erfahren.

Am 15. Februar trafen sich die Indios aller von Räumung bedrohten Dörfer zu einer Demonstration in der Bezirkshauptstadt Ocosingo. Mehr als 1300 Leute zogen vor das Rathaus, um ihre Forderungen an die Repräsentanten der Regierung zu übergeben. Danach hieß es in Presseberichten vage, es werde wohl zu weiteren Verhandlungen über die Landfrage kommen. Jedenfalls wurden die Dörfer nicht geräumt, die Drohung jedoch blieb bestehen. Langsam kehrten die Bewohner zurück. Das Leben normalisierte sich trotz der weiter bestehenden Unsicherheit.

Anfang April berichteten Besucher von Anzeichen, dass die endgültige Anerkennung des Landeigentums der Indios durch die Regierung zumindest in Rosalindas Dorf unmittelbar bevorstünde. Die Eintragung des Eigentums in das Grundbuch werde vorbereitet. Die letzte gesicherte Nachricht aus der Gegend habe ich Ende Mai 1996 erhalten. Danach ist es dort nicht mehr zu gewaltsamen Übergriffen gekommen. Das Dorf hat gute Aussichten auf dauerhaften Bestand.

Ich wünsche Rosalinda, Martín, Petrona, Mateo, Tomás und den anderen, dass sie ihre Zukunft nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten können.