Bergwald

Bernd Lisek

1995



Sonthofen, den 11. September 1995


Verehrte Erna, hochgeschätzter Paul,


daß ich Euch aus meinem Urlaub im Allgäu nicht nur die übliche Karte, sondern einen überlangen Brief schreibe, hat einen besonderen Grund. Ich bin nämlich gegenüber einer höchst interessanten, wenngleich äußerst eigentümlichen Person verpflichtet, das folgende unverzüglich aufzuschreiben. Ob der komische Kauz, von dem gleich die Rede sein wird, überhaupt eine Person ist, wage ich nicht zu entscheiden. Ich will es einmal annehmen, denn sonst müßte ich ihn zur Unperson erklären - ein Wort, das mir kalte Schauer über den Rücken jagt.

Folgendes hat sich zugetragen: Vorigen Sonntag, einen Tag nach meiner Ankunft in Sonthofen, nahm mich mein freundlicher Wirt in seinem Wagen bis hinter Burgberg mit. An der Bergstraße, die zum Gasthaus "Alpenblick" führt, stieg ich aus und begann meine Wanderung. Die sanfte Spätsommersonne, vielleicht war es auch schon eine frühreife Herbstsonne, wärmte mich richtig schön durch. Ich pfiff gutgelaunt so manches Liedchen, das gewiß schlecht in diese Landschaft paßte. Vorbei an saftigen Wiesen mit glockenläutenden Kühen, die ersten Ausläufer der Bergwälder schon berührend, schlängelte sich die Straße zum Gasthof empor.

Nach einer ausgiebigen Rast im "Alpenblick" setzte ich meinen Weg fort. Es ging weiter aufwärts. Bald erreichte ich düsteren, alten Mischwald. Die kurvenreiche Straße ist dort oben gerade noch so breit, daß ein normales Auto fahren kann, ohne das Buschwerk an den Seiten zu streifen. Aber die nächste halbe Stunde begegneten mir weder Fahrzeuge noch Menschen. Ich genoß die Einsamkeit und das Rauschen des Windes.

Meine Aufmerksamkeit muß wohl etwas erlahmt sein. Zu spät nahm ich das Motorengeräusch hinter mir wahr. Ich vergaß, den notwendigen Schritt zur Seite zu tun. Vom Schreck gelähmt, konnte ich gerade noch den Kopf herumreißen und starrte plötzlich durch die Frontscheibe eines Kleinbusses, der auf mich zuraste und dessen jugendlicher Fahrer ebenso erschrocken war wie ich.

In diesem Augenblick spürte ich, wie ruckartig und mit großer Kraft an meinem Rucksackriemen gezogen wurde. Ich stürzte nach hinten. Das Buchenlaub schlug mir um die Ohren, während ich die kleine Böschung des Straßenrandes hinunterkullerte. So entging ich mit knapper Not dem Zusammenprall.

Der Fahrer des Kleinbusses hatte heftig gebremst, fuhr jedoch, nachdem er mich hatte im Unterholz verschwinden sehen, ohne anzuhalten weiter.

Wer aber war es, der mich im letzten Moment von der Straße gerissen hatte? Ich brauchte nicht lange zu rätseln. Neben mir hockte auf einem Baumstumpf ein eigentümliches Männchen. Kaum so groß wie ein fünfjähriger Knabe, doch mit langem, weißen Rauschebart. Die Gestalt war in ein Lodenmäntelchen gehüllt, aus dem zottig behaarte, übermäßig große Hände und ebensolche, unbeschuhte Füße hervorlugten. Auf dem Kopf ein lustiges Tirolerhütchen. Das Gesicht verschwand beinahe hinter einem Schwall schlohweißen Haares. Nur eine rote, knollige Nase und zwei große, gütige Augen waren zu sehen. Diese Augen waren es, die mich sofort für den kleinen Kerl einnahmen.

"Guten Tag!" sagte der Kleine mit greisenhafter, keinesfalls unsympathischer Fistelstimme. Nicht etwa "Grüß Gott!", wie es hierzulande zu erwarten gewesen wäre.

"Sei gegrüßt, Besucher des Bergwaldes! Ich bin der Waldschrat Theo. Nicht zu verwechseln mit dem rasierten Pfennigfuchser gleichen Namens, den ihr Menschen als Politiker bezeichnet."

Ich staunte nicht schlecht. "Ein echter Waldschrat? Ein Waldgeist mit Zauberkräften?"

"Vollkommen echt."

"Im Bergwald geht es demnach heute noch zu wie im Märchen?"

"Genau! Und deshalb habe ich jetzt drei Wünsche frei." Der Waldschrat kicherte und rieb sich die Hände.

Na, da war ich ja in eine schöne Situation geraten. Jetzt sollte ich, ausgerechnet ich, einem echten Waldgeist Wünsche erfüllen! Ich versuchte erst mal abzulenken, stellte mich wortreich vor und wollte den Schrat in ein Gespräch über Kuhglocken und deren ambivalentes Verhältnis zu Kuhschellen einerseits und Glockenblumen andererseits verwickeln. Aber Theo ließ sich darauf nicht ein.

"Bist du nun bereit, meine Wünsche anzuhören?"

"Moment mal, das ist doch verkehrte Welt! Soweit ich mich entsinne, war es im Märchen immer so, daß der Geist dem Menschen drei Wünsche erfüllt hat und nicht umgekehrt."

"Das siehst du völlig falsch", konterte der Waldschrat. "Die Märchenerzähler haben sich in ihrer grenzenlosen Überschätzung der menschlichen Macht meistens solche Szenen ausgedacht, in denen ein guter Mensch einem Geist irgendwie behilflich sein konnte. Dafür gab es dann natürlich als Belohnung drei frei Wünsche."

"Na, siehst du", unterbrach ich ihn, "Wünsche erfüllen können nur die Geister."

Doch Waldschrat Theo ließ sich nicht beirren.

"Wer Geist und wer Mensch ist, spielt für die Beurteilung des vorliegenden Sachverhaltes keine Rolle. Und der ist nun einmal so: Ich habe soeben - mit Zauberkraft, wie du zutreffend bemerktest - eine Leistung erbracht. Der Begünstigte dieser Leistung bist ganz offenkundig du. Ich als Leistender habe nun gegen dich als Begünstigten einen Anspruch auf eine Gegenleistung. Drei Wünsche, drei Wünsche, drei Wünsche!"

"Sieh da, der Waldschrat als Rechtsgelehrter! Geht es nicht ein bißchen romantischer?"

"Wo leben wir denn! In einem Rechtsstaat, will ich meinen. Aber du kommst ja aus dem Osten, da mußt du dich erst noch dran gewöhnen."

Jetzt wollte ich natürlich beweisen, daß ich auf dem Gebiet auch schon so einiges drauf habe.

"Also, deine Leistung erkenne ich an, und ich danke dir von Herzen dafür. Aber nach § 305 BGB wäre ich zu einer Gegenleistung nur dann verpflichtet, wenn zwischen uns ein Vertrag bestanden hätte." In diesem Moment fühlte ich mich mächtig schlau.

"Mitnichten! Daß auf dieser öffentlichen Straße kein schwerer Unfall passieren möge, lag im öffentlichen Interesse. Also ist hier öffentliches Recht anzuwenden.

Das ist wie beim Bau einer Straße: Die Politiker beschließen, und die Gemeinde baut, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob die Anwohner die Straße überhaupt wollen. Nicht mal der zuständige Waldschrat wird gefragt, von den Elfen und Zwergen ganz zu schweigen. Und wenn die Straße dann fertig ist, werden die Anlieger kräftig zur Kasse gebeten. Sie müssen zahlen, ob sie wollen oder nicht. So ist das."

"Ich weiß, ich weiß. Erschließungsbeiträge sind eine ärgerliche Sache. Aber das ist doch ganz etwas anderes. Da greift die öffentliche Hand auf Grund eines Gesetzes in unsere Taschen. Nur so geht das. Gegen weitergehende Eingriffe schützt uns immer noch das Grundgesetz." Und da bin ich stolz drauf, hätte ich beinahe hinzugefügt. Gut, daß ich es nicht tat. Er hätte mich sicher ausgelacht. "Du könntest von mir also nur etwas verlangen, wenn du auf Grund eines Gesetzes gehandelt hättest."

"Ja, kennst du denn nicht das Waldschrat-Zuständigkeitengesetz?"

Das Argument war niederschmetternd. Was sollte ich tun? Ich brachte, nun schon ziemlich kleinlaut, schließlich noch den Einwand vor, ein Eingriff auf Grund öffentlichen Rechtes dürfe nicht erdrosselnd wirken, sondern müsse die Leistungsfähigkeit des Schuldners berücksichtigen. Darauf erklärte mir der Waldschrat, er werde mich keinesfalls überfordern. Seine Wünsche seien durch mich gewiß leicht zu erfüllen.

"Also dann: Ich bin bereit." So fügte ich mich in mein Schicksal.

"Nicht so eilig! Als erstes sollst du mir nur eine neugierige Frage beantworten. Damit du sie auch richtig verstehst, will ich dir zuvor etwas zeigen."

Der Waldschrat griff in seine Manteltasche und holte etwas hervor, das auf den ersten Blick wie feiner Sand aussah. Viel Zeit zur Betrachtung hatte ich nicht, denn er warf das Pulver in die Luft, wobei seine Augen plötzlich zu glühen begannen. Als hätte er damit die niederrieselnden Körnchen gezündet, umgab uns augenblicklich ein Feuerball aus glitzernden Sternchen. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich glaubte zu schweben. Im nächsten Augenblick war der Spuk verschwunden. Nur der Waldschrat stand lächelnd neben mir. Aber wo befanden wir uns?

Das Gebüsch, in dem wir unsere Unterhaltung begonnen hatten, war nirgends mehr zu entdecken. Wir standen am Rande eines kleinen asphaltierten Platzes. Vor uns ein Gebäude im traditionellen Stil. "Dreiangelhütte", verriet ein Holzschild über der Tür. Um den Platz herum standen Halbstammbänke, auf denen es sich junge Leute bequem gemacht hatten. Sie redeten munter durcheinander und beachteten uns überhaupt nicht. Waren etwa all diese Mädchen und Jungen, die nicht so aussahen, als seien sie aus dieser Gegend, mit den Zauberkapriolen des Waldschrats vertraut? Er schien meine Frage zu spüren.

"Wundere dich nicht, daß sich niemand wundert", sagte er mit verschwörerischer Miene. "Für die anderen sind wir unsichtbar und unhörbar. Wir können miteinander reden und uns alles anschauen, ohne daß uns jemand bemerkt. Stoß nur niemanden an."

Mir am nächsten saß eine junge Frau mit schönen kastanienbraunen Haaren. Ich schätzte sie auf fünfundzwanzig. Irgendwie sah sie erwartungsvoll aus. Sie war ganz dicht an einen Typen herangerutscht, dessen Äußeres perfekt gestylt war - ein Künstler, man erkannte es auf den ersten Blick an seinem verwegenen Halstuch und den in die Ferne gerichteten, wasserblauen Augen.

"Drachenfliegen soll gefährlicher sein als Gleitschirmfliegen", sagte gerade ein schmaler Junge mit kleinem Zopf, typischer Computerfreak.

"Ein Freund von mir hatte auch mal einen schweren Sturz", warf der Künstler ein, obwohl er gar nicht angesprochen war. Er hieß Fridolin und beschäftigte sich mit ambitionierten Kurzfilmen, wie ich sogleich erfuhr.

"Die Leute fliegen ja immer riskanter." Dem Dünnen war es offenbar egal, mit wem er sich unterhielt.

"Ist doch völlig normal", erklärte Fridolin im Tone eines Mannes, der die Welt vollkommen verstand. "Wenn sich die Leute ans Fliegen gewöhnt haben, ist der Kick halt weg. Und dann müssen eben neue Risiken her."

"Das Gefühl des Fliegens ist, glaube ich, beim Segelfliegen nicht so stark wie am Gleitschirm", meinte die Frau, vielleicht nur, um auf sich aufmerksam zu machen.

"Na, wie gefallen dir die Mädels und Jungs?" fragte mich der Waldschrat.

Ich hatte ja kaum Zeit, mich weiter umzuhören, und so antwortete ich ziemlich unbedacht: "Das sind die Richtigen, um das Überfahren von Rentnern zum Sport zu entwickeln."

"Unsinn! Der erste Eindruck trügt. Die Gruppe macht im Bergwald durchaus nützliche Sachen, über die sich auch ein Waldschrat nur freuen kann: Bäume pflanzen, Steige bauen, die Schäden am Moor wieder beseitigen."

"Das möchte ich sehen!"

"Kannst du, nur Geduld. Ich zeige es dir. Doch zuvor mein erster Wunsch. Schau dir den Bus an." Neben einem Holzschuppen stand der Kleinbus, der mich fast gerammt hätte. "Siehst du die Schrift an der Seite?"

Dort stand in schwungvollen Buchstaben: "Berwaldprojekt e.V."

"Vom Bergwald verstehe ich was, das kannst du mir glauben", versicherte der Waldschrat, und ich hätte es niemals bezweifelt. Er fuhr fort: "Die Abkürzung 'e.V.' heißt 'eingetragener Verein', sowas weiß man als guter deutscher Waldschrat. Was aber ist ein Projekt? Erkläre mir, was ein Projekt ist! Das ist mein erster Wunsch."

Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Denn Projekte umgeben uns im Osten, wo die reguläre Arbeit knapp ist, ja mehr als genug.

"Also, das ist so: Irgendjemand hat die Idee, irgendetwas zu tun, was er gerade gut findet. Irgendetwas Nützliches. Zum Beispiel Bäume pflanzen. Dann sucht er sich ein paar Gleichgesinnte, die das gleiche gut finden. Meistens gründen sie auf schnellstem Wege einen Verein. In aller Regel können sie sich das, was sie gut finden, aber nicht leisten. Geld muß beschafft werden. Aber wie?

Nun hilft das Zauberwort 'Projekt'. Die Leute mit der Idee tun so, als würden sie ihr Vorhaben unbedingt, koste es, was es wolle, in die Tat umsetzen, und sie nennen das Ganze ein Projekt. Damit bekommt die versponnenste Idee einen Anschein von Seriosität.

Außerdem hat das Wort gewaltige Zauberkraft. Es gibt nämlich viele Leute, gerade unter der Jugend, denen selber nichts Rechtes einfällt, die aber trotzdem irgendetwas Nützliches tun wollen. Je ausgefallener die Idee, desto besser. Diese Leute sind geradezu süchtig nach Projekten. Besonders künstlerisch angehauchte Jungen und Mädchen fahren auf Projekte ab. Damit will ich nicht sagen, daß Künstlern nichts Eigenes einfiele, nur eben selten was Nützliches.

Das Projekt - das eigentlich bisher nur als Idee existiert, aber schon so tut, als sei es greifbare Realität - gewinnt schnell Anhänger. Die einen wollen sogleich mitmachen. Diese müssen auf eine spätere Realisierungsphase vertröstet werden. Andere spenden etwas Geld. Nach mehrmaligem Spendenaufruf, versteht sich, und erst, wenn das Projekt mit bunten Faltblättern oder, viel besser, durch einen wohlwollenden Zeitungsartikel gezeigt hat, daß es etwas Rechtes ist.

Das ist überhaupt das Wichtigste an einem Projekt: Jeden Förderer muß sogleich ein ungeheuer gutes Gefühl moralischer Größe durchströmen, wenn er seine paar Mark überweist. Ohne das Wörtchen 'Projekt' wäre dieser Effekt nicht halb so groß und das Spendenaufkommen viel dürftiger.

Doch auch so reichen die Spenden hinten und vorne nicht. Meistens kommt gerade das Geld für den Papierkram zusammen. Aber jetzt entfaltet das Wort Projekt seine ganze Zauberkraft. Da ist also ein Verein aktiver, enthusiastischer Leute, eine Schar von Förderern und ein durch und durch positives Ansehen in der Öffentlichkeit. Die Bezeichnung Projekt ist es, die dem Ganzen etwas Zwingendes verleiht. Und da wird plötzlich der Staat wach, den doch sonst nichts aus seiner selbstgefälligen Ruhe aufschrecken kann. Aber jetzt ist etwas aufgetaucht, das droht, ohne ihn zu laufen, und die Leute mögen es auch noch. In solchen Fällen kann es sich der Staat nicht leisten, dagegen zu sein. Nein, ganz im Gegenteil: Ein Projekt, zumal wenn es sich geschickt darzustellen vermag, verdient Förderung. Fördermittel werden ausgereicht. Nicht zu viel und erst nach mühevollem Antragsweg - sonst könnte ja jeder kommen. Erst mit diesem Geld wird aus dem Projekt wirklich etwas Handfestes. Die Macher haben allen Grund zur Dankbarkeit.

So wird mit etwas Geschick und mit Hilfe des Zauberwortes Projekt aus einer vagen Idee eine im allgemeinen nützliche Tat", schloß ich.

Der Waldschrat war beeindruckt. "Das Zauberwort ist gut."

Die jungen Leute hatten sich inzwischen ins Haus zurückgezogen, von wo aus munteres Geschirrgeklapper zu vernehmen war.

"Der Verein arbeitet in meinem Revier schon seit Jahren", erzählte der Waldschrat Theo. "Die hier mitmachen, sind manchmal ziemlich schräge Typen. Wollen wir doch gleich mal sehen, was die neue Truppe so drauf hat."

Damit griff er wieder in seine Tasche, aber diesmal warf er keinen Sternenglitzerregen. Nein, er zündete sich nur ganz gemütlich eine Pfeife an. Dazu brauchte er weder Streichholz noch Feuerzeug. Sein kleiner Finger genügte vollkommen. Der Pfeifenrauch, der uns sogleich einhüllte, roch angenehm nach Fichtennadeln. Mein Bewußtsein begann sich zu trüben. Ich fühlte ohne besondere Erregung, wie ich abermals in Raum und Zeit verschoben wurde.

Als sich der Nebel vor meinen Augen lichtete, befanden wir uns auf einem Schotterweg, der ziemlich steil nach oben führte. Neben uns rauschte ein kleiner Wasserfall. Auf der anderen Seite des Weges fiel der Hang schroff ab. Im Tal erkannte ich unter dem Nebelschleier den Ort Burgberg. Eine fahle Sonne hing knapp über dem Bergkamm. Ich rieb mir die Augen.

"Zu deiner Orientierung: Es ist jetzt Montag morgen, kurz nach acht, und wir stehen auf dem Weg zum Burgberger Hörnle."

Ich kam nicht einmal mehr dazu, mich ordentlich zu wundern, denn um die Ecke bog in diesem Moment eine Schar abenteuerlich gekleideter Gestalten, die schwere Hacken geschultert hatten. Unter ihnen Fridolin, der Filmkünstler.

Voran schritt ein auffallend kleines, aber energisch dreinblickendes Mädchen mit kurzen Wuschelhaaren. Sie war offenbar die Anführerin der sieben Projektarbeiter, denn als sie "Halt!" rief, blieben alle schlagartig stehen.

"Wer hat den Topf?"

"Ich", meldete sich Fridolin. Er kramte einen großen, schwarz verrußten Kessel aus seinem Rucksack.

Die Kleine füllte den Topf am Wasserfall randvoll.

"So, die Suppe zu Mittag ist gesichert. Weiter!"

Fridolin übernahm den vollen Topf, der ihn sehr beim Gehen behinderte.

Nach ein paar Schritten blieb die Wuschelhaarige schon wieder stehen.

"Schaut mal!" Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Weg vor ihren Füßen.

"Ein Alpensalamander."

"Wie niedlich!"

"Ganz schwarz."

"Die sind hier so schwarz, weil sie die Sonnenwärme maximal ausnutzen müssen. Hat Christoph gesagt."

"Im Harz gibt es Salamander mit gelben Flecken."

"Ich finde sie so ganz schwarz schöner."

"Ein total ästhetisches Tier."

"Wie lieb!"

"Der Tag ist gut. Er gibt mir schon am Morgen so viel."

"Ja, mir auch, ein unheimlich starkes Gefühl."

"Jetzt weiß ich, wofür ich das alles hier mache."

"Ja, total gut."

In diesem Moment zerbrach Theo einen Fichtenzapfen. Aus dessen Innerem spritzte Teer und verkleisterte das Bild vor meinen Augen. Gleichzeitig setzte wieder jenes Kribbeln im Bauch ein, das ich nun schon kannte.

Als sich mein Blick wieder klärte, fanden wir uns an einem unglaublich steilen, steinigen Hang wieder.

"Da sollen wir rauf?" fragte ungläubig ein etwas dickliches blondes Mädchen.

"Immer langsam, wir sind doch Großstadtsensibelchen!" Das war Fridolin.

"Eh, hier hat ja schon jemand gepflanzt!"

"Gemeinheit."

"Schau mal", die Wuschelköpfige zupfte an der Spitze eines Tannenpflänzchens und zog es widerstandslos aus der Erde. "Alles Pfusch."

Fridolin zerrte eine Kiste mit Buchenpflanzen hinter sich her, den Hang hinauf, der so steil war, daß er sich immer mit einer Hand an den spärlichen Grasbüscheln festhalten mußte.

Waldschrat Theo klaubte ein Steinchen aus dem Moos und schnippte es mit den Fingern hangaufwärts. Der Stein hüpfte, ständig schneller werdend, nach oben und verschwand in einem Tollkirschenbusch. Plötzlich stand der Busch in Flammen. Er machte einen Hüpfer, ließ das Geröll unter seinen Wurzeln los und startete damit eine Lawine aus rollenden Steinen, die rasend schnell auf uns zupolterte. Ich schloß vor Angst die Augen.

Der Steinschlag verebbte, ohne mir etwas anzutun. Zurück blieb etwas Brandgeruch.

Ich saß jetzt neben Theo auf einem am Wegrand liegenden Baumstamm. Der rauchige Geruch wehte von einem fast verloschenen Feuer herüber, auf dem die jungen Leute ihre Suppe gekocht hatten. Sie saßen auf einem Holzstapel und löffelten ihr Mittagsmahl.

"Will jemand noch einen Löffel Schokolade?"

Man hatte die Schokolade in der Sonne liegenlassen, und nun war sie völlig zerschmolzen.

"Von welcher Firma?"

"Natürlich Transfair und Bio!"

Sogleich hub eine Diskussion an über die Prinzipien des fairen Kaffee- und Kakaohandels.

Doch Theo meinte: "Das kannst du dir auch zu Hause anhören. Es ist Zeit für den zweiten Wunsch."

Hätte ich doch fast vergessen, daß ich noch mit zwei Wünschen in seiner Schuld stand.

"Also", Theo rutschte auf dem geschälten Baumstamm hin und her, als wüßte er nicht recht, wie er beginnen sollte, "mein zweiter Wunsch hat mit Politik zu tun. Aber nur ein bißchen. Nur als Hintergrund, sozusagen.

Du mußt wissen, solche wie mich gibt es ziemlich viele. Überall, wo es Wälder gibt. Zwar sind wir alle mehr oder weniger eigenbrötlerische Originale, aber wenn ein paar von uns zusammenkommen, dann verstehen wir uns doch ganz gut. Ist ja auch kein Wunder, bei unserer Erfahrung. Jeder ist mindestens so alt wie sein Wald. Und alle haben wir das gleiche Interesse, nämlich unsere Wälder zumindest für uns bewohnbar zu erhalten. Gepflegte Parks und Golfplätze nützen uns nämlich nichts. Wir brauchen es schon etwas wilder und unwegsamer.

Nun, wenn es darum geht, gemeinsame Interessen durchzusetzen, dann gründet man eine schlagkräftige Vereinigung, bei großen, lebenswichtigen Dingen am besten gleich eine Partei. Dabei haben wir Waldgeister einen großen Vorteil: Unser Horizont ist nämlich nicht wie bei den Menschen-Politikern durch die Kürze von Wahlperioden vernagelt. Wir sind viel weitsichtiger. Man kann auch sagen, moderner. Und deshalb gründen wir keine Vereine in den verschiedenen Landschaften, auch keine nationale Partei. Nein, wir wollen gleich eine Europa-Partei aufbauen!

So haben wir uns also zusammengesetzt und wollten uns ein Programm ausdenken. Doch schon beim ersten Satz sind wir gescheitert. Wer sind wir eigentlich? Jeder von uns ist ein Waldschrat. Und alle zusammen? Wie heißt eigentlich die Mehrzahl von Waldschrat? Waldschrats? Waldschrate? Oder gar Waldschraten? Die Meinungen gingen auseinander. Es kam zu gefährlicher Fraktionenbildung, an der das ganze Projekt beinahe gescheitert wäre. Unsere französischen und spanischen Kollegen schüttelten nur verständnislos mit den Köpfen. Aber was half es? Eine Lösung mußte gefunden werden. Schließlich haben wir beschlossen, an unserem Grundsatzpapier erst dann weiterzuarbeiten, wenn wir sicher wissen, wie die Mehrzahl von 'Waldschrat' heißt.

Da wir nun einmal so ganz modern sein wollen, kommt für uns auch nur die modernste Lösung in Frage. Das heißt, die Regel nach der neuesten Rechtschreibreform. Und das ist nun deine zweite Aufgabe: Finde heraus, wie die Mehrzahl von 'Waldschrat' nach der Reform richtig heißen wird!"

Statt zu schildern, wie uns Theo anschließend wiederum an einen anderen Ort und in eine andere Zeit versetzte, will ich an dieser Stelle dem weiteren Gang der Geschichte etwas vorgreifen und erwähnen, daß es mir im Laufe dieser Woche ohne große Mühe gelang, meine zweite Aufgabe zu erfüllen. In Sonthofen machte ich die Bekanntschaft einer äußerst liebenswürdigen Bibliothekarin, die eine Freundin an einem sprachwissenschaftlichen Institut hatte. Jene wiederum wartete nur noch auf den Beschluß zur Rechtschreibreform, um mit ihrem allerneuesten Wörterbuch eine Winzigkeit vor der Konkurrenz auf den Markt zu kommen. Bereitwillig gab sie mir die gewünschte Auskunft. So schrieb ich heute morgen auf einen Felsbrocken unmittelbar an der Bergstraße die Lösung: "-e". Ein Wanderer, der zufällig vorbeikam, guckte ziemlich blöde. Theo wird mich verstehen.

Doch zurück zum Gang der Dinge.

Waldschrat Theo hob ein Rindenstück auf und zerrieb es mühelos zwischen den Fingern. Er pustete den herabrieselnden Staub in eine bestimmte Richtung, und schon fühlte ich, wie mich die anschwellende Staubwolke mitriß.

Diesmal bekam ich bei der Landung nasse Füße.

"Dienstags regnet es meistens." Theo grinste.

Vor uns dehnte sich ein kahler Hang voller Stubben und totem Holz. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich die jungen Pflänzchen in all dem Durcheinander. Ich konnte nicht erkennen, wie weit diese Fläche sich erstreckte, denn die Grenzen verschwanden im Dunst. Nieselregen. Überall Matsch und kleine Rinnsale. Gerade vor unseren Füßen war ein schmaler Streifen quer zur Hangneigung aufgewühlt und demzufolge besonders matschig.

"Ein Steig", erklärte Theo. "Jetzt sieht das noch nicht wie ein richtiger Weg aus. Wenn das alles hier aber erst mal wieder zugewachsen ist, dann wird der Förster froh sein, diesen Steig zu haben, denn sonst käme er noch viel schlechter über den Hang."

"Magst du den Förster?"

"Er ist mein heimlicher Freund. Wenn er nur nicht immer so penetrant nach Rasierwasser riechen würde! Eine Marter für meinen feinen Geruchssinn!" Theo rieb sich seine rote Knollennase.

Da näherte sich ein Trupp Projektarbeiter. Voran gingen zwei Mädchen. Sie tasteten sich vorsichtig neben dem Steig entlang, um nicht in dessen Pfützen zu tappen, hüpften von Graskaupe zu Graskaupe. Es folgte Fridolin. Er stapfte mitten auf dem Steig durch den Matsch.

"Habt ihr überhaupt kein Vertrauen in unseren schönen Steig?"

Kaum hatte er das gesagt, versank er bis zu den Knien in der Lehmpampe, die hoch aufspritzte. Die anderen lachten. Da lachte auch Fridolin.

Theo schrie entsetzt auf. Er hatte von den Schlammspritzern gehörig etwas abbekommen.

"Verdammt, jetzt ist mein Pulver naß geworden. Jetzt geht alles drunter und drüber."

Ich begriff nicht gleich, was er meinte. Offenbar hatte er schon wieder irgendwelches Zauberpulver in der Hand, als der Dreck ihn traf. Bald mußte ich feststellen, daß das Zaubermittelchen außer Rand und Band geraten war. Es wirbelte mich mal hierhin, mal dorthin und ließ mich die verrücktesten Gesprächsfetzen aufschnappen.

"Eine Schnecke!"

"Wo?"

"Bei dir."

"Auf dem Rucksack."

"Bei mir?"

"Nein, bei dir."

"Was?"

"Eine Schnecke."

Ein Regenschwall peitschte mich irgendwo anders hin.

"Hauptsache, die Zigaretten sind trocken geblieben."

"Na klar, die haben wir im Auto gelassen."

"Was denn, überhaupt keine dabei?"

"Nee."

"Scheiße."

Eine Schlammlawine riß mich fort.

"Ich mach mich gerne dreckig."

"Hurra! Dreckig und stolz darauf!"

Nun kam ein Fichtennadelsturm auf, nahm mir für einen Augenblick das Bewußtsein, und ich fand mich hinter einem Holzstoß neben dem Herd der Hütte wieder.

Der Förster Heinz saß völlig verschlafen am Frühstückstisch.

"Heute nacht habe ich geträumt, ich war König auf Bora-Bora und wollte meinen Untertanen etwas Gutes tun. Da gab es einen großen Vulkan. Ich habe einen Steig gebaut, spiralig um den Vulkankegel herum, bis zum Gipfel. In dieser einen Nacht. Bis der Wecker klingelte, mußte ich fertig sein. Schöne Schinderei! Klar, daß ich jetzt müde bin."

"Heinz leitet hier schon seit Jahren den Steigbau", flüsterte mir Theo zu.

Der Holzstoß krachte zusammen, verwandelte sich in einen Fluß und riß mich mit. Eigenartigerweise floß der Fluß bergauf. Am Burgberger Hörnle, dort, wo die Projektgruppe arbeitete, setzte er mich bei schönstem Wetter sanft ab.

"Komm, wir gehen mal pinkeln."

"Wo?"

"Da vorne."

Die beiden verschwanden hinter der Felskante. Ich lief zu der Stelle hin. Dreißig Meter unter mir gähnende Leere. Und ich bin doch nicht schwindelfrei!

Hinter mir vernahm ich Stimmen.

"Los, wir teilen die letzten zwei Kisten auf."

"Zweimal fünfzig Fichten für fünf Mann, das geht schnell."

"Ich habe schon fünfundzwanzig im Sack."

"Bekommst du die auf dem Käferschlag noch unter?"

"Wenn eine Kiste übrigbleibt, macht's auch nichts."

"Spielen wir heute abend wieder Mensch-ärgere-dich-nicht?"

"Aber klar doch, bis zum Abwinken."

"Wieso haben wir eigentlich nur noch anderthalb Kisten?"

"Mindestens eine halbe brauchen wir noch am unteren Hang."

"Zwei Säcke brauchen wir noch. Mindestens."

"Was soll ich jetzt machen?"

"Hilf Fridolin am Käferschlag."

"Ich kann ja noch was zwischenpflanzen."

"Soll ich etwa alleine hier sitzenbleiben?"

"Wieso sind denn jetzt schon die Pflanzen alle?"

"Kommt, wir packen zusammen."

Als Theo wieder neben mir stand und mir versicherte, der Spuk des Zauberpulvers sein nun vorbei, war mir bedeutend wohler. Wir setzten uns und blickten über das weite, besonnte Tal.

"Meinen dritten Wunsch habe ich dir noch nicht genannt", hub Theo nach einer Weile an.

Ich war ganz Ohr.

"Die meisten Leute machen sich keine Vorstellung davon, was hier oben im Bergwald los ist. Und wenn, dann reden sie nur vom Waldsterben. An den Waldschrat denkt niemand. Deshalb habe ich mir gedacht, was mir fehlt, ist ein wenig Publizität.

Also lautet mein dritter Wunsch: Schreibe alles auf, was du hier gesehen und gehört hast und teile es anderen mit!"

Was ich hiermit getan habe.


Die besten Grüße

und so weiter und so fort


Euer Otto


PS: Das Bier ist hier ausgezeichnet. Der Wirt vom "Alpenblick" behandelt mich schon wie einen Stammkunden. Hat er wirklich schon so viel an mir verdient? Ich kann mir das nicht erklären.